Le tout nouveau testament

Ein Film über Gott: Man meint viel über Gott und seinen Sohn zu wissen, aber nichts über seine Tochter. Das wird sich mit dem witzigen und provokativen Film «Le tout nouveau testament» des Belgiers Jaco van Dormael ändern.
Le tout nouveau testament

Gottes Tochter Éa bricht in Vaters Computer ein

Vorbemerkungen des Regisseurs

 

Wie entstand die Idee zu «Le tout nouveau testament»?
«Mein Co-Autor Thomas Gunzig und ich sind von der Annahme ausgegangen, dass es einen Gott gibt und dass er in Brüssel wohnt. Dann haben wir uns gefragt: Was, wenn er ein Tyrann wäre? Und wenn er neben seinem Sohn noch eine Tochter hätte, die nie jemand erwähnt hat? Und wenn diese zehn Jahre alt wäre und sich Gott, ihr Vater, so abscheulich benehmen würde, dass sie sein bestgehütetes Geheimnis per SMS im Internet verbreiten würde, nämlich das Todesdatum jedes einzelnen Menschen auf diesem Planeten?

Entstanden ist daraus ein surrealistisches Märchen mit zahlreichen Bezügen zur Religion. Ich bin kein gläubiger Mensch, aber ich wurde katholisch erzogen. Die Religionen interessieren mich so, wie mich schöne, spannende Geschichten interessieren. Als Kind habe ich mir oft die Frage gestellt, warum Gott nichts unternommen hat, als man seinen Sohn kreuzigte, und warum er nichts tut, wenn Kinder an Leukämie sterben. Warum rettet eigentlich Batman die Menschen, aber Gott nicht? Der Gott in „Le tout nouveau testament“ ist ein echter Tyrann: Es macht ihm Spass, wenn er Feuersbrünste entfacht, Flugzeuge zum Absturz bringt oder Stürme auf die Menschheit loslässt; ausserdem denkt er sich täglich kleine Heimsuchungen für die Menschen aus und stiftet sie dazu an, sich in endlosen Kriegen gegenseitig umzubringen. Womit er ziemlich viel gemeinsam hat mit dem Gott, der in der Bibel beschrieben wird. Da wird auch unablässig getötet! Da gehen ganze Städte in Flammen auf und werden dem Erdboden gleichgemacht. Es wird bestraft und verraten. Gott wird in der Bibel als ein sehr eifersüchtiges Wesen geschildert.»

Erklärt sich so Ihre Lust, etwas daran zu ändern?
«Éa, die Schwester von Jesus, macht die Welt zu einem etwas besseren Ort, indem sie das Leben von ein paar wunderbaren Verlierern verändert. Sie ist erst zehn Jahre alt, und im Gegensatz zu ihrem Bruder kann sie nur kleine Wunder vollbringen. Aber immerhin gelingt es ihr, sechs neue Apostel aus dem Schlamassel zu ziehen – eine Einarmige, einen Sexbesessenen, einen Mörder, eine vernachlässigte Frau, einen Angestellten und ein Kind –, indem sie auf ganz unerwartete Weise dafür sorgt, dass die Liebe in ihr Leben tritt. Damit wollen wir auf humorvolle Art zu verstehen geben: Das Paradies ist hier und heute, nicht erst nach dem Tod. Wir haben nicht lange zu leben. Liebt und tut, was euch gefällt.»

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Gott auf der Suche nach seiner Tochter

Ein Film, der an- und aufregt

 

Wie schon mit früheren Filmen, etwa «Toto le héros» (1991) oder «Le huitième jour» (1996), gelingt van Dormael, dem belgischen Spezialisten für das Imaginäre, für Aussenseiter und Behinderte, ein leichtes und poetisches, ein witziges und gleichzeitig bitterböses Kinojuwel mit einer ungewohnten Ästhetik und einer schönen Portion Frechheit und Unverschämtheit. Er wagte nichts Geringeres, als das erste Kapitel des Alten Testaments umzuschreiben und in Szene zu setzen. Was im fast zweistündigen «Brandneuen Testament» abläuft, ist zum Lachen und zum Denken. Es ist, wörtlich, verrückt, also weggerückt von den Normen und Regeln des Alltags, was den Film erfrischend, unterhaltsam und provozierend macht – vielleicht auch da und dort Verwirrung und Ärger auslöst.

Gläubigen, ob Juden, Christen oder Muslimen, zeigt der Film, augenfällig und radikal, wie es draussen, ausserhalb der Welt des Glaubens, sein kann, was zu hinterfragen sich vielleicht auch mal lohnt. Agnostikern und Atheisten bietet der Film teils eine beruhigende Bestätigung ihres Denkens, teils können einzelne Szenen zu weiterführenden und verunsichernden Fragen verhelfen. So oder so: Ein Film, der an- und aufregt!

Warum? Weil ein Fantast seine Hirngespinste mit viel audiovisuellem Brimborium und kreativen Spielereien auf die Leinwand bringt. Um bei den künftigen Besuchern des Films die Spannung aufrecht zu halten, verzichte ich auf weitere Inhaltsangaben. Wer Details, Nuancen oder Anspielungen nicht ganz mitbekommt, hilft sich am besten mit einem zweiten Kinobesuch.

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Gott Vater mit Frau und Tochter

Aus einem Interview mit Jaco van Dormael

 

Können Sie etwas zum Aufbau Ihres Films sagen?
Der Film ist wie ein Märchen strukturiert – jemand, der keine religiöse Erziehung genossen hat, erkennt in «Le tout nouveau testament» zumindest Parallelen zu Märchen wie «Rotkäppchen» oder «Alice im Wunderland», all diese Geschichten, die sich im universellen Gedächtnis festgesetzt haben.

In Ihrem Film spielt Jesus Christus eine eher unbedeutende Rolle: Er steht bei seinen Eltern als kleine Christusstatue auf einem Schrank und verfügt lediglich über unbedeutende Kräfte.
Es läuft immer auf dieses «Was wäre, wenn?»-Spiel hinaus. Was wäre, wenn Jesus die Dinge gegen den Willen seines Vaters vollbracht hätte und dabei, wie sein Vater es ihm vorwirft, bloss improvisiert und aus dem Bauch heraus entschieden hätte, ohne genau zu wissen, was er eigentlich tut? Und was, wenn die Sache schlecht für ihn ausgegangen wäre? Das Neue Testament wurde mehr als 300 Jahre nach dem Tod von Jesus Christus überarbeitet, da hatte man es längst bereinigt und eine ganze Reihe apokrypher Schriften unterschlagen.

Es ist erstaunlich, wie sehr sich die Welt in der Sekunde verändert, in der jeder erfährt, wie lange er noch zu leben hat.
Nicht zu wissen, wann wir sterben werden, hat zur Folge, dass wir es vergessen und schliesslich glauben, unsterblich zu sein. Doch sobald sich der Schatten des Todes über unser Leben legt, finden wir wieder mehr Gefallen daran. Jedenfalls geht es meinen Filmfiguren so, nachdem sie diese SMS mit ihrem Todesdatum erhalten haben. Manche stellen ihr Leben völlig auf den Kopf, andere wiederum wollen es lieber nicht so genau wissen.

Wie in all Ihren Filmen steht auch diesmal die Kindheit im Zentrum der Handlung.
Weil es das Alter ist, in dem man die Dinge zum ersten Mal tut und erlebt und so intensiv empfindet wie später nie wieder. Man ist noch nicht eingeordnet worden, läuft bildlich gesprochen noch aufrecht. Während der Kindheit gibt es diese magische Phase, in der man darauf pfeift, dem zu entsprechen, was die anderen von einem erwarten. Doch dann wird man älter, und das Kind, das man einmal war, schleppt man tief in seinem Innern verstaut mit sich herum. Erwachsene sind nichts anderes als Kinder, die gross geworden sind. Ich mag ihre ansatzweise surreale Vision der Welt – aber ist sie wirklich so viel surrealer als die, die man sich aneignet, wenn man glaubt, vernünftiger zu werden?

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Catherine Deneuve in einer mutigen Rolle

 

 

Regie: Jaco van Dormael, Produktion: 2015, Länge: 113 min, Verleih: Frenetic