Les Enfants des Autres
Rachel mit der kleinen Leila
Rachel (Virginie Efira) ist eine aufgestellte, vierzigjährige Frohnatur, die ihr Leben geniesst. Sie ist kinderlos und Single, pflegt weiter ein Verhältnis zu ihrem Ex-Mann, von dem sie seit acht Jahren getrennt ist. Bei ihrer Arbeit als Oberstufenlehrerin für Französisch halten die Jugendlichen sie auf Trab, aktuell bei ihrer Lehrstellensuche. Als Rachel beim Gitarrenunterricht den charismatischen Kollegen Ali (Roschdy Zem) kennenlernt, verändert dies ihr Leben schlagartig. Die beiden verlieben sich Hals über Kopf und führen nun eine leidenschaftliche, innige Beziehung. Nur eine Kleinigkeit steht der Harmonie im Weg: Alis vierjährige Tochter Leila (Larrie Ferreira-Goncales), die er von seiner Ex-Frau Alice (Chiara Mastroianni) hat, von der er getrennt ist.
Trotz ihrer generellen Sympathie für Kinder und Jugendliche fällt es Rachel nicht leicht, Leilas Zuneigung zu gewinnen. Auch wenn sie sich noch so bemüht, die Kleine liebevoll zu behandeln, kann sie den Platz von Mama nicht einnehmen. Rachels tiefster Wunsch ist es, ein eigenes Kind mit Ali zu bekommen. Doch in ihrem Alter tickt eine Uhr, meint ihr Gynäkologe charmant. Louanna hingegen (Yamée Coutre), Rachels jüngere Schwester, wird versehentlich schwanger, begrüsst diese Schwangerschaft freudig, nachdem Rachel sie dazu ermuntert hat.
Rachel und Ali
Eine Beziehung mit Hindernissen
Nach einem turbulenten Einstieg entfaltet sich «Les Enfants des Autres» zu einem berührenden, tiefgründigen und dennoch humorvollen Melodrama. Die Hauptdarstellerin scheint sich in ihrer Rolle richtig wohlzufühlen und zeigt eine brillante Performance. Noch selten wurden die Situation und das Befinden einer Stiefmutter so nuancenreich, feinfühlig und ehrlich dargestellt wie hier. Rebecca Zlotowskis fünfter Spielfilm loten die Tiefen und Höhen eines Frauenlebens aus, das Stiefmutter heisst. Nonchalant und voll Elan schwingt sich die Protagonistin Rachel durch den Schulalltag. Überraschend schnell entwickelt sich die Liebesbeziehung mit Ali. Schon nach wenigen Minuten wird die Geschichte ein sozialpsychologisches Kammerspiel, das bestens unterhält.
Je weiter die Erzählung fortschreitet, desto mehr bekommt sie an Tiefe. Am Ende des Films stellen wir fest, dass wir nicht nur eine authentische, facettenreiche Love-Story erlebt haben, sondern dass hier das bekannte Bild der Stiefmutter auf erfrischende, selten gesehene Art und Weise thematisiert wird. Zlotowski gelingt es überzeugend, das Empfinden und die Gefühle von Rachel zu vermitteln und die Herausforderungen in ihrer anspruchsvollen Situation zu thematisieren. Einen massgeblichen Anteil daran hat sicherlich die mitreissende Hauptdarstellerin Virginie Efira. Das Wechselbad der Gefühle, in dem sie sich befindet, verlangt von ihr enorm viel. Mit Roschdy Zem, der seine Rolle als Ali ebenfalls vorzüglich spielt, harmoniert Efira wunderbar. Ihr Zusammenspiel wirkt natürlich und überzeugend, in den heiteren wie den schwierigen Situationen.
Leila zwischen Rachel und Ali
Leila im Sandwich zwischen Rachel und Ali
Die Geburt von Louannas Sohn gibt Rachel Gelegenheit, sich intensiver in die Beziehung mit dem «Kind einer anderen» zu befassen. Auch zwischen Rachel und Leilas Mutter Alice entsteht eine zärtliche Beziehung. Doch es bleibt: Rachel hätte gerne ein eigenes Kind. Gelegentlich verspürt sie zwar eine gewisse Bitterkeit und fragt sich, ob sie dazu verdammt sei, bloss ein Intermezzo in Alis Leben zu spielen, bis er ihr auch tatsächlich, wie befürchtet, mitteilt, dass er zu Alice zurückkehren und deshalb das Verhältnis mit ihr beenden wolle. Die Beziehung zu Leila bleibt dabei offen. Im «Epilog» begegnet Rachel zufällig ihrem ehemaligen Schüler Dylan, der sie damals recht gefordert hat und jetzt glücklich an seinem Berufsziel angekommen ist.
Besonders schön an diesem Film ist für mich seine Atmosphäre und Gestimmtheit, zu der, neben den grossartigen Schauspielerinnen und Schauspielern, die Bildgestaltung von Georges Lechaptois und das Musikdesign von Thomas Desjonqueres und Bruno Reiland ihren Beitrag leisten. Denn ihnen gelingt es, dass Gesten, Mimik und Blicke, vor allem aber die Körper von Rachel und Ali uns eine spannende und sinnliche Geschichte erzählen, und dass in diesem von Bildern und Tönen getragenen Fluidum der Film die Schwere des Seelendramas verliert, nicht aber seine glücklich machende Bedeutung.
Vorsichtige Annäherung
Aus den Anmerkungen von Rebecca Zlotowski
Ich begann mit der Adaption von Romain Garys Roman «Au-delà de cette limite votre ticket n'est plus valable», eines Romans, welcher der Ohnmacht eines Mannes direkt und unverblümt ins Auge blickt. Doch etwas wehrte sich in mir. Nicht weil ich mich nicht in diesen Mann hineinversetzen konnte, der keinen mehr hochbekommt, sondern weil ich mich zu sehr in ihn hineinversetzte. Nach und nach wurde mir nämlich meine eigene Hilflosigkeit als 40-jährige Frau ohne Kinder bewusst, die sich eines wünscht und zum Teil die Kinder von andern grosszieht.
Eine Stiefmutter sein, ohne selbst Mutter zu sein. So banal, schmerzhaft und beschämend wie die männliche Impotenz, war dies der Ausgangspunkt meiner Geschichte, die es wert war, erzählt zu werden. Denn sie war bisher kaum erzählt worden. Nicht einmal richtig benannt. Denn das Band, das uns mit den Kindern eines anderen, eines geliebten Mannes, dessen Leben und dessen Familie wir teilen, verbinden kann, schien mir nicht nur namenlos, man spricht von Mutterschaft und Vaterschaft, nicht aber von Stiefmutterschaft und Stiefvaterschaft.
Ich wollte den Film über diese Nebenfigur der Erzählung machen. Ein Kino der Nebenfigur gegen das Kino der Protagonisten, die ihre Leidenschaften und Exzesse im Eifer des Gefechts und des Konflikts ausleben. Die Übergangsliebe, die man zwischen zwei grossen Geschichten erlebt und die die Amerikaner als «Rebounds» bezeichnen, zu Deutsch die Lückenbüsserin, der Lückenbüsser.
Durch eine Ironie des Schicksals, als ich nicht mehr darauf hoffte, stellte ich bei den Vorbereitungen zum Film fest, dass ich schwanger war, und ich drehte diesen Film in Erwartung eines Kindes, das einige Tage nach Abschluss der Tonmischung geboren wurde. Ich hatte das Gefühl, diesen Liebesbrief und die Solidarität an kinderlose Frauen zu filmen, während ich bereits nicht mehr ganz zu ihrer Gemeinschaft gehöre, auch noch nicht ganz zu der andern. Mit «Les Enfants des Autres» wollte ich einen Film machen, der mir gefehlt hatte. Anmerkung von HS: Die Regisseurin wurde am 21. April 1980 geboren, und der Film war 2021 wohl in der Postproduktion :-).
Disneys «Cinderella» aus dem Jahre 1950
Ein notwendiger Paradigmenwechsel
Stiefmütter gelten im Alltag und in den Medien als böse Reizfiguren, über die gelacht werden darf. Am erfolgreichsten geschah dies wohl bei Walt Disneys «Cinderella», als Animationsfilm von 1950 und als Spielfilm mit Cate Blanchett von 2015.
Vor diesem Hintergrund hat Rebecca Slotowski mit «Les Enfants des Autres» einen notwendigen Paradigmenwechsel angestossen, weg vom naiven, letztlich sexistischen, hin zu einem fairen, wirklich menschenfreundlichen Paradigma, einem ästhetischen und gesellschaftlichen Ereignis: glaubhaft, überzeugend und lustvoll.
Und was ich noch fragen möchte
Könnte die Beurteilung von Stiefmüttern, Stiefväter und Stiefkindern, so auch von Rachel im Film «Les Enfants des Autres», durch die Umwelt, vor allem durch die Mütter, Väter und Kinder, nicht etwas zu tun haben mit den bekannten Grundbegriffen, die Erich Fromm in «Haben oder Sein» definiert hat?