Les herbes folles

«Les herbes folles», eine Alters-«Amour fou» - Der Altmeister des französischen Films, Alain Resnais, lädt ein zum Denken und zum Vergnügen.

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Georges auf der Suche nach Suzanne, vielleicht auch der verlorenen Zeit

Ein älterer Herr findet ein Portemonnaie, verliebt sich in die ihm unbekannte Besitzerin und verfolgt sie mit Anrufen und Briefen, bis sie es ihm untersagt. Als sie ihn jedoch zu vermissen beginnt, nimmt sie seine Fährte auf, bis beide bei einem Flug das höchste Glück oder den Absturz finden. Die Geschichte dieses schicksalsträchtigen Zusammentreffens von zwei grundverschiedenen Menschen erzählt Alain Resnais, der Grossmeister des französischen Kinos, in seinem leicht wirkenden und gleichzeitig tiefsinnigen, wenn auch nicht immer leicht zu entschlüsselnden Film «Les herbes folles».

Hinschauen und der Phantasie freien Lauf lassen

Zugegeben, beim ersten Mal habe auch ich nur wenig verstanden von diesem, aus der Sicht des Mainstream-Kinos etwas geheimnisvollen Film. Ich spürte lediglich, dass dahinter etwas Besonderes steht – für mich Grund genug, einen Film nochmals zu schauen. Zusätzlich herausgefordert wurde ich durch die publizierte Bemerkung eines Kritiker-Kollegen, er hätte den Film überhaupt nicht verstanden. Nach dem zweiten Mal jedoch ging mir vieles auf. «Les herbes folles» ist ein meisterhaftes, reiches und reifes Alterswerk des berühmten, heute 88-jährigen Alain Resnais, der die Filmgeschichte verschiedentlich vorwärts bewegt hat. Erstmals mit dem erschütternden Dokumentarfilm «Nuit et brouillard» über die Endlösung der Judenverfolgung, dann mit dem vielleicht bedeutendsten Film über das Vergessen und das Namen-Geben, «Hiroshima, mon amour», und weiter mit dem ersten Film, der die Ideen des «Nouveau roman» auf den Film übertragen hat, «Les années dernières à Marienbad». Stets hat er die akademischen Regeln und kommerziellen Normen des Kinos gebrochen, hat immer gemacht, was man nicht macht, weshalb er auch von der Filmhochschule gewiesen wurde.

Der Film beginnt mit einer Fahrt auf den dunklen Eingang eines grossen, runden Turmes hin. Dann zeigt er Gräser, die einen Asphaltweg durchstossen. Weiter fährt die Kamera über eine blühende Wiese. Bis er sich von hinten an den feurigroten Wuschelkopf der weiblichen Hauptfigur heftet. Weiter folgen wir gehenden Füssen und Beinen. Und wieder folgt, wie später noch mehrmals, eine Fahrt über die blühenden Gräser. Erst dann treffen wir auf die zweite Hauptfigur, den betuchten Pensionär und Hausmann, Vater erwachsener Kinder, der mit seiner Frau zusammenlebt, während er seine Uhr reparieren lässt, weil sie still steht.

Bei einem Regisseur vom Format Resnais’ hat selbstverständlich jedes Detail, auch die Reihenfolge, also der Schnitt, einen Grund. Ich versuche zu verstehen: Wir begeben uns ins Dunkel eines Gebäudes, ins Dunkel und die Kompliziertheit der menschlichen Psyche. In diesem Innern spriesst das Leben wild und wirr, wie die Gräser und Blumen auf der Frühlingswiese. Diese durchstossen den Steinboden wie das Leben und die Sehnsucht die Gewohnheit und den Alltag. Von den Allegorien geht’s dann zu den Menschen, beginnend mit gehenden Füssen, einem hektischen und lauten Alltag, wie ältere Menschen die moderne Zeit doch häufig erleben.

Auf die Frage, warum er für den Film den Titel «Les herbes folles» gewählt habe, antwortet Alain Resnais: «Cela me semblait correspondre à ces personnages qui suivent des pulsions totalement déraisonnables, comme ces graines qui profitent d’une fente dans l’asphalte en ville ou dans un mur de pierre à la campagne pour pousser là où on ne les attend pas.»

Der Altmeister der «Mise en scène»

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Der 88-jährige Alain Resnais bei der Bildersuche

Resnais war immer ein Meister bei der Wahl und im Führen seiner Schauspielerinnen und Schauspieler. Einige wurden zu Ikonen des Kinos. Mehrmals wurde Sabine Azéma, seine Lebenspartnerin und Muse, wie hier, mit einer Hauptrolle betraut. Mit von der Partie wiederum André Dussolier, dessen Darstellung des Hin-und-Her-Gerissen-Seins allein schon den Kinobesuch lohnt.

Er arbeitet mit Motiven, die sich wiederholen, hier die Gräser, Schuhe und Füsse. Weiter verwendet er eine Rahmenhandlung, so die Szene am Anfang, wo es heisst: «Irgendwann beendet die Uhr ihren Lauf, wie auch das Leben endet», und die ihre Entsprechung im offenen Schluss findet. Diese und viele andern hintergründigen Anspielungen sind jedoch leichthändig, witzig und unkonventionell gefilmt. Ein surreal-absurder Film in boulevardesk-verspieltem Ton.

Mit Nähe und Distanz spielt er, wenn er beispielsweise in einzelnen Szenen einen Erzähler einsetzt. Sequenzen mit Zeitlupe, Doppelbelichtung, Schnitt im Bild und andern Spezialtechniken bedeuten Zusätzliches. Von Anfang bis Schluss jedoch bleibt der Film spielerisch, obwohl das Leben als Spiel und das Spiel als Leben mitgedacht ist, gut nachvollziehbar, weil der Regisseur die Klaviatur des Kinos beherrscht.

Das Glück der Nicht-Erfüllung

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Georges sucht Suzanne, Suzanne Georges, doch beide finden sich aber nie ganz.

Der alte, manchmal etwas schwer atmende Georges Palet findet den vom Dieb weggeworfenen Geldbeutel der Zahnärztin und Freizeitpilotin Marguerite Muir. Ihr Foto darin weckt in ihm eine tiefe, geheimnisvolle Begierde, vielleicht verwandt den «Schmetterlingen im Bauch» der Jungverliebten, doch ohne deren Zielgerichtetheit. Er möchte sie kennen lernen, sagt er, er muss sie kennen lernen, empfindet er. In «Hiroshima, mon amour» stand das Vergessen im Mittelpunkt, hier das Kennenlernen – bezeichnend für das Alter, welches angesichts des schwindenden Lebens, der rasenden Begierde verfallen kann, noch dies oder jenes zu machen, zu erfahren, zu lernen, zu wissen oder eben diesen oder jene kennen zu lernen. Die Existenz der vornehmen, wenn auch etwas kühlen Frau bildet denn auch den rote Faden, der sich durch den ganzen Film zieht, im zweiten Teil weniger von ihm zu ihr, sondern von ihr zu ihm geht.

Diese Begierde kommt jedoch nie ans Ziel, zur Vereinigung, zum Erkenne, zur Namensgebung (wie in «Hiroshima»). Sie oder er bremst immer wieder, wenn die Nähe Tatsachen zu schaffen droht. Doch sie macht die beiden, auch wenn sie gelegentlich darunter leiden, im Tiefsten glücklich, weil das Leben durchbricht wie die Pflänzchen durch den Teerboden. Ihre Sehnsucht, ihre Träume werden frustriert und gestoppt, bevor sie Wirklichkeit werden. Könnte es sein, dass die Wirklichkeit eine solche Sehnsucht braucht, um nicht zu versteinern, die Sehnsucht die Wirklichkeit nötig hat, um sich nicht im zu verflüchtigen? «Glücklich der, dessen Wünsche nicht durch ihre Erfüllung entzaubert werden», meinte einmal Elias Canetti. Genau davon handelt «Les herbes folles».

Das Fliegen und Abstürzen

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Wie einst Ikarus kommt Georges zu seinem geliebten Fliegen.

Am Schluss des Films lädt Suzanne Georges zum Fliegen eine. Der Flug über der Landschaft, den Häusern, dem Lebensraum und Alltag wirkt auf ihn wie die konkretisierte, befriedigte Begierde. Sogar das Steuer bekommt er in die Hände, was einige Loopings zur Folge hat und wahrscheinlich zum Absturz führt. Wie einst Ikarus stürzt der Flieger – wahrscheinlich – zur Erde. Somit bindet der Film gleich die beiden grossen Geheimnisse des Lebens in die Handlung ein: die Liebe und den Tod. Sie umspannen das Leben und den Film. Kunstfliegen sei hier verboten, reklamiert ein Bauer; doch sie scheren sich keinen Deut darum. Ihre Begierde, ihr «amour fou» kennt kein Verbot, keine Regeln, kein Gesetz. Wie der Inhalt so durchbricht auch die Form die Regeln der Akademien und der Filmbibeln. Alain Resnais, ein alter, leicht ironischer und melancholischer, doch immer menschenfreundlicher Mann und Künstler spielt bei allem, was er macht, wie ein Jongleur im Zirkus des Lebens – und das befreit und zaubert ein Lächeln auf die Gesichter aller in seine Traumwelt Entführten.

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