L'Escale

Ein Aufschrei der Empörung: Der Film «L’Escale» von Kaveh Bakhtiari konfrontiert uns mit der weltweiten Völkerwanderung. Ein wichtiger Diskussionsbeitrag, vor allem nötig nach der Abstimmung vom 9. Februar 2014.

 

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Anfang und Schluss des mehrfach ausgezeichneten Schweizer Dokumentarfilms «L’Escale» von Kaveh Bakhtiari handeln hinter einem Vorhang. Dieser verdeckt, was geschieht, aber nicht gesehen werden soll. Während 100 Minuten sind wir dort Zeugen einer Gruppe von Immigranten in Griechenland – und damit eines grossen Ereignisses der aktuellen Weltgeschichte: der Völkerwanderung.

Amir, ein iranischer Einwanderer, lebt in einer bescheidenen Wohnung in Athen. Hier bietet er Männern und Frauen, die sich wie er entschieden haben, ihr Heimatland zu verlassen, Unterkunft und Verpflegung an. Griechenland ist für sie alle nur eine Zwischenstation. Sie möchten in andere europäische Länder weiterreisen, sobald sie Papiere, Kontakte oder einen Schlepper haben, dem sie ihr Schicksal anvertrauen können.

Der Film ist die Geschichte einer Begegnung. Als der iranisch-schweizerische Regisseur Kaveh Bakhtiari in Griechenland einen preisgekrönten Kurzfilm an einem Festival zeigte, hörte er, dass sein Cousin illegal nach Griechenland eingereist sei. Er suchte ihn in Athen und wohnte anschliessend während eines Jahres mit ihm und dessen Weggefährten zusammen, um ihren Alltag mit der Kamera zu begleiten. Ein risikoreiches Unterfangen, denn ausserhalb der Wohnung musste er im Versteckten drehen, um die Aufmerksamkeit nicht auf die illegal im Land weilenden Männer und Frauen zu lenken. Entstanden ist ein Film, der niemanden kalt lässt, denn er konfrontiert das Publikum mit dem Universum der Migration, in welchem Hoffnung, Solidarität, Angst, Mut der Geflohenen auf die Realität der Festung Europa treffen: spannend und aufwühlend, weil hautnah und authentisch.

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Immer neue Mauern

«L’Escale» handelt von einem Dutzend Menschen in einer ehemaligen Waschküche in der Athener Altstadt, hat jedoch eine universelle Bedeutung, weshalb mir eine gesamtgesellschaftliche Einordnung wichtig erscheint. Der folgende Text von Françoise Deriaz, in France Culture am 20. Juni 2012 ausgestrahlt, dürfte diese leisten: «Im Zeitalter der Globalisierung hat der freie Fluss von Kapital, Rohstoffen und Fertigprodukten explosionsartig zugenommen. (…) Gleichzeitig wird die Mobilität des grössten Teils der Menschheit stark behindert – und das unter Missachtung der von der internationalen Gemeinschaft vertretenen Werte, insbesondere der „Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte“. Die Illusion von den „offenen Grenzen“ ist verpufft: Obwohl die Aufteilung der Erde durch Staatsgrenzen der Doktrin der Globalisierung gänzlich widerspricht, sind seit dem Fall der Berliner Mauer 1989 weltweit mehr neue Barrieren errichtet worden als je zuvor. (…) Zählte man im Jahr 2000 rund 5000 Kilometer befestigte Grenzmauern oder -zäune, sind es heute 20000.

Grenzbefestigungen haben stets auch eine Türe beziehungsweise eine Öffnung. Ihre Funktion ist es, die Menschen dazu zu zwingen, sich Kontrollen zu unterziehen und vor allem illegale Einwanderungen zu verhindern. Es sind in erster Linie die Armen, die man daran hindern will, die Grenzen zu passieren; die Armen, ohne die, wie nicht wenige denken, alles wunderbar wäre in der globalisierten Welt. Ein grosser Teil der Menschheit, der auch ein Stück vom Wohlstandskuchen möchte, ist nicht eingeladen, an der gedeckten Tafel Platz zu nehmen.

An der Grenze zwischen Griechenland und der Türkei erstreckt sich seit Dezember 2012 ein über zehn Kilometer langer Sperrzaun. (…) Der neonazistischen Partei „Goldene Morgenröte“ genügt dies nicht: Sie verlangt eine Sicherung der Grenze mit Minen. Nun versuchen Immigranten durch den Fluss Evros von der Türkei nach Griechenland einzureisen, was sehr viel gefährlicher ist. Auf einem für Einwanderer angelegten Friedhof in der Nähe reihen sich nach rund vier Jahren dreihundert Gräber in Form anonymer Erdhügel aneinander.

Während neue Mauern und Zäune wie Pilze aus dem Boden schiessen, werden zudem andere, unsichtbare Grenzen etabliert. Auch sie sollen verhindern, dass unerwünschte Einwanderer die Demarkationslinie zwischen Reichtum und Armut überschreiten, oder, sofern es ihnen doch gelingt, ihre Ausschaffung erleichtern. Um die Europäische Union abzugrenzen und ihr Territorium zu schützen wurden 2003 Systeme zur Identitätsfeststellung eingeführt: Mit dem Schengener Informationssystem SIS (Datenbank für unerwünschte, vermisste und zur Fahndung ausgeschriebene Personen) und Eurodac (Europäische Datenbank zur Speicherung digitaler Fingerabdrücke) sind die Maschen des Netzes enger geworden.»

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Eigentlich!

Der obige Text enthält nichts anderes als Fakten. Doch auch die Alltagspolitik unseres Bundesrates geht in eine andere Richtung, geschweige denn jene der SVP. Doch betrachten wir die Frage der Einwanderung einmal grundsätzlich, global: Nachdem durch die Globalisierung die Grenzen für die Wirtschaft aufgehoben wurden, sollte es doch eigentlich auch für die Menschen keine Grenzen mehr geben. Dem ist aber nicht so. Hier steht weiter der Luxus der Ersten Welt gegen die Armut der übrigen Welt. Allein schon die Diskussion über die Einwanderungsinitiative zeigte, dass die Realpolitik nicht von diesem Eigentlich ausgeht. Sie nimmt es nicht als Tatsache, dass das 21. Jahrhundert das Jahrhundert einer weltweiten Völkerwanderung ist, die erst richtig begonnen hat und wahrscheinlich nicht so leicht, wie man meint, zu stoppen sein wird. Lediglich aus dem Bewusstsein verdrängen kann man sie.

Plädoyer für ein globalisiertes Wir

Ausgleich gibt es in der Physik, Doch auch die Geschichte tendiert gelegentlich dazu. Dass die Menschen von dort, wo Armut herrscht, nach dort, wo es Reichtum im Überfluss gibt, sich bewegen, ist logisch und psychologisch. Gewöhnlich geschieht dies in Kriegen oder mit Terror. Wie aber wäre dies zu verhindern? Mir scheint, der Kern des dahinter verborgenen Problems beginnt mit dem Wörtchen «Wir». Wir gehen im Alltag und in der Politik meist von einem vor-globalisierten Wir aus. Doch wir leben in einer globalisierten Welt. Wer sind wir also heute? Als was handeln wir heute? Als globalisierte Wirs. Angesicht einer von der Wirtschaft erzwungenen globalisierten Welt gilt es, so meine ich, unser Wir auch im Menschlichen, im Sozialen neu zu definieren, zu «globalisieren». Es kann weiterhin nicht ausschliesslich das alte, kleine Wir unserer vertrauten Familien, geordneten Gemeinden und professionell geführten Schweiz sein. Es braucht eine Globalisierung, die auch das Humane beinhaltet: ein grosses, solidarisches Wir! Wir sind Teil des Ganzen, der ganzen Welt. Begründungen für ein solches solidarisches Wir bieten an: das Christentum mit seiner Nächstenliebe, der mosaische Dekalog der Juden, der Koran der Muslime, die Postulate der Französischen Revolution, der Sozialismus, der Kategorische Imperativ, die Solidarität des Existenzialismus usw.

«L’Escale» ist, so denke ich, ein hochpolitische Kunstwerk, das uns herausfordert, radikal unser Denken zu hinterfragen und über unser Handeln nachzudenken.

Verleih www.filmcoopi.ch

Interview mit Kaveh Bakhtiari

«In jedem Film ist ein Juwel versteckt, das es zu finden gilt.» Diese Aussage des Filmemachers Abbas Kiarostami, den sie während Ihres Filmstudiums kennengelernt haben, hat Sie nachhaltig geprägt. Wie würden Sie sie interpretieren?

Da wir beide aus dem Iran kommen und unsere Muttersprache persisch ist, hatte ich während eines Workshops eine besondere Beziehung zu Abbas Kiarostami. Er hat tatsächlich von diesem Juwel gesprochen, ohne das seiner Meinung nach jegliche kinematographische Bemühung vergeblich ist. Ich denke, seine Aussage bezieht sich weniger auf die Thematik eines Films als auf den Esprit und das Urteilsvermögen des Filmemachers: Auf seine Fähigkeit, das Essenzielle zu erkennen, sich darauf zu konzentrieren, und das Überflüssige wegzulassen. Um das besagte Juwel zu finden, ist es notwendig, sich den Personen im Film möglichst stark anzunähern, da sie das Gesuchte in sich tragen.

Welches ist die Thematik von «L‘Escale»?

Ich würde sagen: die Desillusionierung. Mein Film handelt von Menschen, die versuchen, ihren Lebensbedingungen zu entfliehen und ihr Schicksal in die Hand zu nehmen. Es sind Migranten, die extrem grosse Risiken eingehen müssen – dort, wo sie es am wenigsten erwarten.

Haben Sie das erwähnte Juwel bei den Dreharbeiten gefunden?

Nicht nur eines! Und genau da lag die Schwierigkeit – die fundamentalen menschlichen Nöte, deren Zeuge ich wurde, waren sehr eindringlich und überwältigend. Jede noch so unbedeutend scheinende, alltägliche Geste konnte für diese Migranten zum Verhängnis werden. Nur schon eine Zahnbürste kaufen zu gehen, stellte für sie ein unvorstellbares Risiko dar.

Wie haben Sie die Souterrain-Wohnung in Athen, in der sich die illegalen Einwanderer versteckten, gefunden?

Ich war als Gast an ein Filmfestival in Griechenland eingeladen, wo mein Kurzfilm «La valise» gezeigt wurde. Zur selben Zeit erfuhr ich, dass einer meiner Cousins, den ich während Jahren nicht mehr gesehen hatte, den Iran verlassen hatte. Es gelang ihm, illegal und ohne zu ertrinken auf dem Wasserweg von der Türkei aus die griechische Insel Samos zu erreichen. Dort wurde er von Zollbeamten aufgegriffen, später wurde er in Athen in Haft gesetzt. Ich war also eingeladen, über meinen Film zu reden, und wohnte in einem Hotel, derweil ein anderer hinter Schloss und Riegel sass, obwohl er nur über Griechenland in einen anderen Teil Europas reisen wollte. Ich traf ihn nach seiner Entlassung aus dem Gefängnis. Er nahm mich mit an seinen Wohnort in einer Wäscherei in einem Athener Vorort, die zu einer kleinen Wohnung umgebaut worden war. Dort hielten sich Immigranten versteckt, die auf eine Gelegenheit warteten, Griechenland verlassen zu können. So kam ich mit dieser verborgenen Welt in Berührung, mit dem Universum der illegalen Einwanderer, der verlorenen Schicksale und der Menschenschmuggler.

Amir, einer der Protagonisten im Film, verkörpert quasi den Lebensanker dieser «Schiffbrüchigen». Wie kam es dazu?

Als Amir begann, diesen «Schiffbrüchigen» Unterschlupf zu bieten, lebte er bereits mehr als drei Jahre in Griechenland. Wie viele Migranten ist auch er von Menschenschmugglern betrogen worden. Nun bot er Neuankömmlingen gegen wenig Geld Unterstützung, Verpflegung und Hilfe an, was ihm selbst geholfen hat, zu überleben. Amir, der dasselbe durchgemacht hat wie die bei ihm wohnenden Migranten, hatte eine Aufenthaltsgenehmigung, die es ihm erlaubte, legal kleine Jobs anzunehmen.

Wie haben Sie diesen aussergewöhnlichen Menschen erlebt, der mit einer derartigen Grosszügigkeit über andere wachte?

Die Einzigartigkeit von Amir liegt in gewissem Sinne in seinen eigenen gefahrvollen Erfahrungen begründet: Anderen zu helfen hat seinem Leben einen Sinn gegeben. Keiner von denen, die bei ihm Unterschlupf gefunden haben, war bei der Abreise derselbe wie bei seiner Ankunft. Geht es ums Überleben, ist es besser, auch anderen, die im selben Boot sitzen, zu helfen – sie werden dies nicht vergessen. Man muss begreifen, dass die Migranten, die es nach Athen geschafft haben, tatsächlich Überlebende sind: Ihr Leben endete nicht wie das Tausender anderer in einem Massengrab, bevor sie überhaupt nur eine Zwischenstation auf ihrem Weg erreicht hatten. Solchen Menschen ist es wichtig, eine Lebensspur zu hinterlassen; das ist sicher auch der Grund dafür, dass sie es zuliessen, von mir gefilmt zu werden.

Wie lange waren Sie für die Dreharbeiten in Athen?

Ich blieb etwa ein Jahr vor Ort, wenn man ein paar Hin- und Herreisen, mehrheitlich aus technischen Gründen, nicht mitzählt. Ich hätte in einem Hotel wohnen können, wo es komfortabler gewesen wäre als in einer ehemaligen Wäscherei im Souterrain. Dort musst man auf einen Hocker steigen, um aus einem Fenster einen Blick auf den Gehsteig erhaschen zu können. Ich habe nie in meinem ganzen Leben mehr Autoreifen und Schuhe gesehen als dort. Aber ich hätte mich irgendwie wie ein Dieb gefühlt, wenn ich nur ab und zu mit der Kamera aufgetaucht wäre, um ein Stück des Lebens dieser Menschen zu filmen. Und ich wollte von ihnen nicht als Fremdkörper wahrgenommen werden, sondern eher wie eine Art Alter Ego, der sie auf einem Teil ihres Weges begleitet – als Iraner wie sie selbst, obwohl ich das Glück habe, europäischer Bürger zu sein. Und so habe ich ihren Alltag begleitet in diesem überfüllten Athener «Hafen», der von Furcht ebenso erfüllt war wie von Lachen und unterdrückten Schreien, wo das Leben immer kippen konnte, alles dem Gesetz des Zufalls unterworfen war.

Hatten Sie immer das Gefühl, willkommen zu sein?

So wie Amir eine Art «Vater» war, war ich der «Typ mit der Kamera». Ich war derjenige, der als Einziger dokumentieren konnte, was der Status als illegaler Einwanderer und die damit verbundenen Leiden bedeuten. Die Immigranten machten mir die Wichtigkeit meiner Rolle klar, was ihren gelegentlichen Ärger auf mich und meine Kamera nicht ausschloss! Genau betrachtet ist natürlich keine Geschichte gleich ist wie die andere. Und auch wenn meine Geschichte thematisch teilweise ähnlich ist wie diejenige von den Menschen in «L’Escale»: Hätte ich ihren Alltag nicht geteilt, hätte ich mir nie vorstellen können, wie viel mutiger und tatkräftiger als ich es je gewesen bin, diese Leute sind. Es ist sehr schwierig, die Energie von Menschen, die um ihr Überleben ringen, zu beschreiben. Worte allein sind dafür sowieso nicht stark genug. Ich war mit Männern und Frauen zusammen, die dem Tod unmittelbar ins Auge geblickt und auf wundersame Weise überlebt hatten. Sie hiessen mich willkommen, luden mich ein, mit ihnen zusammen zu sein, weckten in mir die Kraft, ein unvorhersehbares, riskantes filmisches Projekt durchzuziehen.

Mehreren Protagonisten Ihres Films ist es gelungen, von Griechenland in andere europäische Länder weiterzureisen. Ist das die Regel?

Überhaupt nicht! Amir hat mir versichert, dass die sich zum Guten wendenden Geschichten, die wir während des Drehs erlebt haben, statistisch gesehen Ausnahmen sind. Ich selber habe illegale Immigranten in anderen Unterkünften gekannt, die gestorben sind, inhaftiert wurden oder sich nach wie vor in Athen verstecken, dreieinhalb Jahre später.

Wie haben Sie die Dreharbeiten organisiert?

Es wurde und konnte nichts organisiert werden. Wenn man einen Film über illegale Immigranten machen will, muss man im Versteckten drehen und wird quasi zum illegalen Filmemacher. Man muss ständig auf der Hut sein, seiner Intuition folgen, starke Nerven haben – und immer damit rechnen, dass von einer Sekunde auf die andere alles vorbei sein kann. Eine Polizeirazzia hätte bedeutet, dass alles aufgeflogen wäre. Jeden Abend dachte ich, dass ich die letzten Aufnahmen gedreht habe.

Mit was für einer Crew haben Sie gearbeitet?

Ich kleidete mich wegen der Polizei wie ein Tourist, arbeitete allein und drehte mit einer kleinen Digitalkamera. Im Lauf der Zeit weitete ich mein Drehumfeld konzentrisch aus. Doch je mehr sich die Story entwickelte und schneeballartig ausbreitete, umso wichtiger wurde es, das gedrehte Material in die Schweiz zu bringen. Dabei half mir Marie-Eve Hildbrand, die künstlerische Mitarbeiterin des Films. Sie kam mehrmals nach Athen. Sie filmte auch zwei sehr riskante Szenen, die zu drehen sich meine griechischen Techniker geweigert hatten.

Seit den Dreharbeiten für «L’Escale» hat sich die Wirtschaftskrise in Griechenland zugespitzt, die extreme Rechte wie auch die Neonazi-Bewegung sind stärker geworden.

Die aktuelle Situation ist katastrophal. Die illegale Immigration wird von der extremen Rechten gegeisselt, die Immigranten werden zu Sündenböcken für die griechischen Missstände abgestempelt. Sie werden im Namen der Ideen der ultranationalistischen Partei «Goldene Morgenröte» verfolgt, geschlagen, getötet. Viele haben Athen verlassen und halten sich in Wäldern versteckt, um den Aggressionen zu entgehen. Aber selbstverständlich gibt es auch Griechen, die ihr Bestes tun, um ihnen zu helfen – wenngleich jetzt viele von ihnen selber daran denken, ihre Heimat aus wirtschaftlichen Gründen zu verlassen.

Im Film sagen Sie, dass wenn einmal keine Migranten mehr nach Europa kommen, es an den Europäern sei, zu emigrieren. Glauben Sie wirklich, dass das passieren kann, sich die ganze Situation quasi umkehren wird?

Das wird unausweichlich sein. Als ich diese Gedanken meinem Cousin gegenüber äusserte, hatte die Wirtschaftskrise Griechenland noch nicht in die Knie gezwungen. Aber schauen Sie, was heute passiert: Die Griechen emigrieren, vorwiegend in die Türkei, um ihrer misslichen Lage zu entfliehen. Und die Türkei gehört politisch gesehen nicht zu Europa. Die Richtung der Migrantenströme verändert sich und es gibt meiner Ansicht nach schon viele Anzeichen dafür, dass die Verschiebung in vollem Gang ist: China, Indien, Brasilien und die Türkei erleben einen Aufschwung, während die USA und Europa kämpfen müssen, um sich halten zu können.

«Wir können doch nicht alle Armen der Welt bei uns aufnehmen»: Welche Argumente setzen Sie solch einem Statement entgegen?

Die im Film gezeigten Immigranten kommen aus dem Mittelstand und konnten 15’000 bis 20’000 Euro investieren, um nach Europa zu gelangen. Das bedeutet, dass die wirklich Ärmsten nie in die reichen Länder kommen, weil sie die entsprechenden Mittel gar nicht haben. Sie haben schon Schwierigkeiten, in ein anderes Dorf zu reisen. Wir müssen also die Armen dieser Welt nicht aufnehmen, weil sie gar nicht zu uns kommen können. Die Perversion dieses Statements liegt darin, dass es einen Versuch darstellt, die Öffentlichkeit zu beruhigen und die Realität zu leugnen. Denn was kann man überhaupt noch tun oder verbessern angesichts so eines Satzes?

Interview: Françoise Deriaz, Übersetzung aus dem Französischen: Michael Lang