Liebe und Zufall

Fredi M. Murers Commedia humana: Eine Frau begegnet ihrer Vergangenheit und findet ihre Zukunft. Der Film «Liebe und Zufall» von Fredi Murer ist unterhaltsam und tiefgründig, vielleicht sein Opus magnum.
Liebe und Zufall

Elise Altmann (Sibylle Brunner) und Paul Altmann (Werner Rehm

Die 76-jährige Elise weiss ganz genau, wie die letzten Jahre ihres Lebens verlaufen werden. Mit dem 79-jährigen Paul, mit dem sie seit 50 Jahren glücklich verheiratet ist, will sie bis zu ihrem letzten Atemzug in der gemeinsamen Villa am Zürichberg wohnen, liebevoll umsorgt von Angela, ihrer treuen Haushälterin. Doch dann wird diese von Enrique für ein Theaterstück engagiert. Paul fährt mit seinem Maserati einen Mann an und freundet sich in der Folge mit ihm an. Elise küsst einen jungen Tierarzt, der ihrer Jugendliebe Robert zum Verwechseln ähnlich sieht. Dies alles wäre für Elise und Paul noch kein Grund, den Lebensabend anders zu verbringen als geplant, wenn der junge Tierarzt nicht auch noch der Sohn des angefahrenen Mannes wäre …
Ist das alles bloss Zufall? Schicksal? Fügung? Fragen über Fragen, die in Richtung von Max Frischs «Biografie» weisen: Was wäre, wenn? Der 74-jährige Fredi M. Murer lädt uns ein zu einer turbulenten, charmanten, unsentimentalen und anrührenden Komödie. Unterhaltung mit Tiefgang in einem: echte Commedia humana. Sein Filmer-Leben lang, seit «Chicoree» (1966) in zwanzig Filmen, hat er die Grenzen der Filmkunst ausgelotet, mehrmals, auch jetzt, mit Pio Corradi an der Kamera. Mit seinem «letzten» Film, er bezeichnet ihn so, macht er nochmals weiter, jugendfrisch und altersreif. – Nach dem ersten Besuch des Films war mir klar, das ist sein Opus magnum, auch wenn ich Belege dafür erst später gefunden hatte.

 

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Angela Tignonsini (Silvana Gargiulo) und Enrique von Moos (Ueli Bichsel): im Film auf der Bühne mitreissend

Des Regisseurs Anmerkungen zu «Liebe und Zufall»

Was Murer als Einführung zu seinem Werk geschrieben hat und erzählt, ist so klug und witzig, biografisch und filmografisch interessant, dass vieles daraus hier weitergebe. Wenn damit nicht alles klar wird, ist das meine Absicht, denn oft ist klar, was selbstverständlich, und unklar, was geheimnisvoll ist. Murer erzählt die Geschichte einer Geschichte. Oder ist es die Geschichte einer Geschichte einer Geschichte?

«Zehn Jahre nach „Vitus“ haben wir es noch einmal geschafft, einen Film zu realisieren. Ohne Jugendbonus, aber dafür mit Altersmilde. Alles verlief landes- und branchenüblich normal: drei Schritte vorwärts und zwei zurück. Gute fünf Jahre Arbeit und Beharrlichkeit liegen zwischen dem ersten Exposé, den drei fundamental verschiedenen Drehbüchern und dem nun vollendeten Film.»

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Paul Altmann (Werner Rehm, diskret und differenziert)

Warum «Liebe und Zufall»?

«An ihrem 90. Geburtstag, anno 1991, überreichte meine Mutter ihren sechs Nachkommen feierlich fünf Bundesordner, alle randvoll gefüllt mit von Hand geschriebenen Blättern: vier Romane und eine Art Autobiographie, die sie zwischen 70 und 80 heimlich niedergeschrieben hatte. Ihre Lebenserinnerungen waren überschrieben mit „Eigentlich habe ich nichts erlebt“, und einer der vier Romane trug den Titel „Liebe und Zufall“. Während Dreharbeiten von Höhenfeuer (1984) hatte ich per Zufall erfahren, dass meine Mutter bei einem Arztbesuch in Ohnmacht gefallen war, weil sie meinte, ihrer grossen Jugendliebe gegenüberzustehen, die vor mehr als 60 Jahre davor nach Amerika ausgewandert und nie mehr zurückgekehrt war. Tief beeindruckt von dieser starken emotionalen Reaktion versuchte ich, meine damals 83-jährige Mutter damit zu trösten, dass ihr Unglück immerhin mein Glück gewesen sei, denn wenn sie damals ihrem Geliebten gefolgt wäre, würde es mich ja heute gar nicht geben. Worauf sie ohne eine Sekunde zu zögern sagte: „Warum sollte es dich nicht geben, du wärst einfach ein Amerikaner.“ Diese lapidare Antwort liess mich später immer wieder über die Zufälligkeit der eigenen Existenz nachdenken. Dabei stellte ich mir unter anderem ganz realistisch vor, was all meinen Lieben hierzulande und dem Schweizer Film erspart geblieben wäre, wenn ich als Yankee zur Welt gekommen wäre. Langsam kristallisierte sich die Idee heraus, die Geschichte von jemandem zu erzählen, der ein ganz anderer ist als er meint – sozusagen die Geschichte meines ungeborenen Doppelgängers.»

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Elise Altmann (Sibylle Brunner, quicklebendig wie in «Rosie»)

Diese Mütter – Man wird sie ein Leben lang nicht los

«Bei der Lektüre der erwähnten Bundesordner fand ich bald die tieferen Gründe, weshalb meine Mutter beim Anblick des jungen Arztes in Ohnmacht gefallen war. In ihren Lebenserinnerungen schildert sie die damaligen Erlebnisse um ihre erste Liebe so detailreich, dramatisch und intim, dass ich beim Lesen rote Ohren bekam. Und in ihrem Roman „Liebe und Zufall“ malte sie ihr nicht gelebtes Leben mit ihrem „Amerikaner“ zu einem veritablen Melodrama aus. Mein filmisches Anliegen war aber ein anderes. Ich wollte die Geschichte eines älteren Paares aus meiner Generation erzählen, welches in der aktuellen Gegenwart meiner Wahlheimat Zürich zu Hause ist.»
«Eine spezifische Eigenheit von “Liebe&Zufall“ hat mit meiner Filmografie zu tun. Wie viele Filmemacher meiner Generation habe auch ich sowohl Spiel- wie Dokumentarfilme gemacht. Dabei war es mein Ehrgeiz, meinen dokumentarischen Filmen immer auch eine gewisse Fiktionalität zu injizieren, und umgekehrt meine Spielfilme durch dokumentarisch-ethnologische Bezüge zur Realität zu untermauern. So gesehen ist das vorliegende Spielfilmprojekt eine Art Fusion der beiden Gattungen, denn innerhalb der fiktiven Spielhandlung wird auf einer zweiten Ebene fragmentarisch die Entstehung des Theaterstücks «Knacks» gezeigt, mit dem das authentische Bühnenpaar Ueli Bichsel und Silvana Gargiulo zur Zeit auf Schweizer Kleinbühnen unterwegs ist.

Mehr von der Geschichte sei nicht verraten, ich möchte lediglich auf einige seiner vielen Meriten verweisen: Den Mut, anstelle eines romantischen ein realistisches Alter zu zeigen; die gelungene Balance, tiefgründige Aussagen mit Leichtigkeit zu präsentieren; den wunderbaren Tanz zwischen den Räumen, Ebenen und Zeiten, dem Off und dem On. Das harmonische Spiel der Darstellerinnen und Darsteller unter Murers Führung; den klugen Musikeinsatz von Marcel Vaid, der Sinn macht, und die Montage von Marina Wernli, welche die Handlung vorantreibt, aber nicht hetzt.

 

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Fredi M. Murer

Vom Verschwinden

Unerwartet, doch zum Film und zum Filmemacher passend empfinde ich den Schlusstext: «Der wohl härteste Schnitt in einem Lebensfilm ist vielleicht der plötzliche Sekundentod. Noch härter ist, wenn ein Mensch spurlos verschwindet, zumindest für die Hinterbliebenen. Nur: Verschwinden, ohne eine Spur zu hinterlassen, ist die einzige Methode, Unsterblichkeit vorzutäuschen.»

Der Trailer, der sich gut als Einführung eignet, endet mit Nietzsches berühmtem Satz im «Zarathustra»: «Und alle Lust will Ewigkeit, will tiefe, tiefe Ewigkeit», der dem Film nochmals eine andere Dimension gibt.

Regie: Fredi M. Murer
Produktionsjahr: 2014
Filmlänge: 113 min
Verleih: Vegadistribution