L'Îlot

Eine Insel im Meer der Alltäglichkeit: Der Schweizer Regisseur Tizian Büchi schenkt uns mit «L'Îlot» einen meditativen Zugang zu einem geheimnisvollen Ort, den Menschen dieses Quartiers und zur Natur allgemein: ein genialisch verspielter Gegenentwurf zur Alltäglichkeit unserer Welt.
L'Îlot

Der geheimnisumwobene Bach Vuachère

«L'Îlot», der erste lange Film von Tizian Büchi, gründet auf drei Begegnungen, die der Regisseur nach seiner Rückkehr aus dem Ausland mit den zwei Männern Daniel und Ammar und einem Viertel in Lausanne gemacht hat. Entstanden ist ein dokumentarisch suchender und fiktional intuitiver Film, der uns zu einem neuen, andern Sehen bewegen kann.

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Daniel und Ammar (v.l.), die Hauptakteure

Zwei Stadtteile und ein Flüsschen

 

Die Quartiere Faverges und Chandieu und das Flüsschen Vuachère bilden das Territorium des Films. Das Viertel liegt am Rande der Hauptverkehrsachsen der Stadt und befindet sich geografisch gesehen in einem Loch. Im Gegensatz zu den wohlhabenden Häusern auf den umliegenden Hügeln mit freien Blick auf den See und die Berge gibt es hier keine Aussicht, sondern eine dichte Bebauung aus den 1950er-Jahren, ursprünglich für die Eisenbahnarbeiter und ihre Familien – heute vor allem von Menschen mit geringem Einkommen, häufig mit Migrationshintergrund, sowie Pensionierten bewohnt. Wenn man dem Rauschen des Bächleins folgt, gelangt man unterhalb des Viertels in eine grüne Oase mitten in der Stadt, zauberhaft, doch beunruhigend, gewöhnlich, doch geheimnisvoll.

Mit diesen Entdeckungen reifte in Büchi die Idee zu «L'Îlot», dem Film über ein mögliches, unbestimmtes, mysteriöses Ereignis, das sich für die Bevölkerung – und auch uns Zuschauenden – der Tatsächlichkeit entzieht. Ausgehend von den Erzählungen der Bewohnerinnen und Bewohner, den Empfindungen und Eindrücken, die das Gebiet und die Geologie des Gebietes versprühen, unterstützt von den Pflanzen und Tiere, der Landschaft und der Atmosphäre. Vor allem aber von den Menschen mit ihren Legenden aus der Gegenwart und Vergangenheit. Die realistischen und imaginären, sinnlichen und narrativen Handlungsstränge werden kunstvoll rhythmisierend miteinander verwoben, um, wenn auch keine Erklärung für das mysteriöse Ereignis zu finden ist, doch ein faszinierendes Porträt eines Viertels und einer Gruppe von Menschen mit einem Hauch von Geheimnis und Poesie zu erzeugen: «L'Îlot – Like an Island», wie der Film im Ausland heisst, ist so etwas wie eine Insel im gewöhnlichen Lebensmeer und kreiert für Momente so etwas wie eine paradiesische Gegenwelt zu unserer alltäglichen Welt, die erfüllt ist mit Reglementen und Kontrollen.

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Ein Liebespaar hat sich ans Flüsschen zurückgezogen

Daniel und Ammar, die zwei vom Dienst

 

Daniel, aus Angola eingewandert, und Ammar, aus dem Irak geflohen, durchstreifen gemütlich, aber dennoch aufmerksam das Viertel, machen da und dort einen Halt für eine Beobachtung oder ein Gespräch. Wie die mäandrierenden Arme eines Flusses verbinden sie die Geschichten, die sie erleben. Die beiden Sicherheitsleute haben die Aufgabe, den Fluss zu sichern und den Zugang zu ihm zu verhindern. Warum, weshalb? Das wird nie beantwortet, mutet allmählich schon fast etwas kafkaesk an. Zu Beginn des Projektes war nur Daniel als Wachmann eingestellt, der Mann mit dem imposanten Körperbau, der durch die Gegend flaniert, Absperrbänder anbringt und gelegentlich im Schatten sitzt, um der schwülen Hitze zu entgehen. Dabei kommt es zu Begegnungen, kürzeren oder längeren Gesprächen mit den Bewohnerinnen und Bewohner, deren Neugier durch die Präsenz des Wachmanns geweckt wird. – Die Figur, eine Mischung aus Sicherheitsbeamten und Schutzengel, wurde von Daniel, einem ehemaligen Kontrolleur der Lausanner Verkehrsbetriebe, inspiriert, den Büchi vor über zehn Jahren in einem Bus getroffen hatte, als er ohne gültigen Fahrausweis fuhr. Seine kräftige, lachende Stimme, sein jovialer Blick, sein Charisma und seine natürliche Autorität hatten ihn damals so beeindruckt, dass er ihn, nachdem er ihn nach Jahren wieder getroffen hatte, bat, an seinem Film mitzuwirken. Als eine Aufstockung der Stelle nötig wurde, holte man Ammar als Kollegen. Der ältere Daniel hatte die Aufgabe, den jungen, unerfahrenen Ammar in die Arbeit einzuführen, was zu einem fast väterlichen Verhältnis wurde. Die Beziehung, die persönlicher wurde, ermunterte den Jungen, sein kompliziertes bisheriges Leben im Irak mit insgesamt drei Frauen zu erzählen, was Daniel berührte, nachdem auch dieser sich geöffnet hatte und er ausführlich von seinem früheren Leben in Afrika erzählt hatte, was auch seinen Kumpel staunen liess.

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Dienst bei Tag und Nacht

Kurze und längere Gespräche

 

Was zwischen Daniel und Ammar abläuft, läuft auch zwischen den andern Menschen im Quartier ab. So treffen sie eine junge Frau, die im Wald Gitarre spielt, weil es zu Hause nicht erlaubt ist. Wir sind Zuhörende und Zuschauende, was eine Gruppe alter Leute bei einem Glas Weissen über das Leben, ihre Freuden und Leiden, plaudert. Die Sicherheitsleute begegnen da und dort jemandem zu einem kurzen Schwatz, so einer Frau hoch oben am Fenster. Bei jeder Pause ergeben sich weitere Kontakte mit Menschen aus aller Welt. Von Jugendlichen erfahren wir einiges von ihren Abenteuern. Besonders vielfältig und unterhaltsam sind die fünf Frauen aus Spanien, Portugal, Kolumbien und Kuba, die ihre Lebenserfahrungen ausführlich austauschen. Und die Geschichte der Region erzählt ein Geologe im Wald in einem professionellen Statement. Erheiternd, wie die Kommunikation zwischen den beiden Männern mit dem Dienstfunk kläglich misslingt. Während des ganzen Films werden immer wieder aus Worten, Sätzen, Blicken und Gesten Menschen so wirklich lebendig und entsteht da und dort Gemeinschaft, begleitet von Vogelgezwitscher, Rauschen des Flüsschens, Flirren der Blätter und illustriert von den zauberhaften Bildern der Pflanzen und der Landschaft.

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Kinder erobern die verbotene Insel

Von der Schönheit des Absurden

Der Sicherheitsauftrag erscheint, genauer betrachtet, eigentlich als absurd, nirgend auf Fakten fussend. Doch gibt es, so lässt sich fragen, nicht gerade heute und verbreitet noch in der Schweiz, häufiger als früher Bestrebungen zu mehr Überwachen und Kontrolle? Der Film hält sich mit einer Deutung zurück, lässt mir jedoch verschiedene Deutungen offen. Denn Begegnungen, wie sie der Film zeigt, können sowohl anteilnehmend und fürsorgend als auch kontrollierend und einengend sein. Sehen und gesehen werden, gilt zwischen der Aufsicht und den Beaufsichtigten, aber auch zwischen den Bewohnerinnen und Bewohnern. Die Mission von Ammar und Daniel erhält dadurch den besonderen Dreh, indem sich ihre Lebenswege und Schicksale mit denen der Bewohnerinnen und Bewohner decken. Denn jeder und jede sucht sich seinen oder ihren Platz, sucht das Gebiet, in dem er oder sie sich mit grösstmöglicher Freiheit und dem geringsten familiären, moralischen und politischen Druck verwirklichen kann.

«Hier ist nichts los», verrät Ammar einmal seinem Vater bei einem privaten Telefonat. Die Wartezeit der beiden Sicherheitsleute ist lang, sie versuchen, ihrer Anwesenheit im Quartier einen Sinn zu geben. Sie werden zu Schutzengeln und Vaterfiguren, bleiben auch Sicherheitsbeamte und Kontrolleure. Doch schliesslich folgen beide ihrem Instinkt und dem Ruf des Waldes. Sie kommen unten beim Fluss an, wo sich auch andere, junge Menschen einfinden, von wo sie eigentlich ferngehalten werden müssten – und sie finden das Glück des Viertels in einer ruhigen Zone ausserhalb der Reglemente und Kontrollen. «Eine Metapher für das heutige Europa, eine tiefgründige Reflexion über die Absurdität von Grenzen, Regeln und Barrieren. Eine Beobachtung, die in Staunen versetzt», meint die Jury von Visions du Réel, welche Tizian Büchi 2022 für diesen Film den Grossen Preis gegeben hat. «Das Imaginäre ist eine Freiheit, die nicht überwacht werden kann», meint der Regisseur, und ich vermute, wenn wir diesen Film gesehen und wirklich verstanden haben, sehen und verstehen auch wir die Welt etwas anders.

Regie: Tizian Büchi, Produktion: 2022, Länge: 104 min, Verleih: Alvafilm