L'intrepido

An-Teil-Nahme: Gianni Amelio gelingt mit dem Film «L’intrepido» etwas Grosses: das Porträt eines Mannes, der für andere arbeitet, Glück verbreitet und Unglück erträgt – grossartig gespielt von Antonio Albanese.

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Antonio, am Schluss das Publikum fragend

Antonio Pane, ein in sich ruhendes Gemüt, ein rundum zufriedener Mensch, wie man ihn nur selten antrifft. Er klagt nicht, sondern packt an, springt ein als «L’intrepido» (Einspringer), wo in einer hektischen und von Krisen gezeichneten Gesellschaft Not am Manne ist. Jeden Tag geht er zur Arbeit, einmal da, einmal dort, auf seine eigene Art. Im Grunde ist er arbeitslos, hat als Springer aber alle Hände voll zu tun, ersetzt er doch stunden-, tageweise all jene, die mal kurz oder länger von der Arbeit weg müssen oder verhindert sind. Das Wesentliche: Er hat Zeit und setzt diese für andere ein.

Anteil bei der Arbeit …


Auf dem Bau hilft er Bretter schleppen, und im Supermarkt unterhält er Kinder. Dann betätigt er sich als Koch und Sprachlehrer. Er hängt Plakate auf und massiert einen gichtkranken alten Bekannten. Bis der reguläre Tramführer vor Ort ist, führt er das Tram durch die halbe Stadt. Dann verträgt er Pizzen. Weiter finden wir Antonio in einer Grosswäscherei, einer Bibliothek, im Schuhladen und bei der Stadionreinigung. Geld ist ihm zweitrangig, wichtiger dagegen, dass er sich nützlich macht. Mit seinem Verhalten findet er neue Antworten zum Sinn der Arbeit: Arbeit als Engagement für ein Werk, das Sinn macht, bloss als Zugabe Geld bringt.

Die Szenen spielen nicht im luftleeren Raum, sondern schildern exakt die heutige italienische Gesellschaft, die geprägt ist von Oberflächlichkeit, wirtschaftlichem Druck, Egoismus und Geldsucht, Korruption und Missbrauch. Antonio hält dagegen, indem er an der Realität aufläuft. Wie in der Schweiz werden auch hier die Reichen reicher und die Armen ärmer. Das Ausleuchten dieser Hintergründe macht «L’intrepido» glaubwürdig und überzeugend.
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Antonios Sohn Ivo auf der Suche nach Anerkennung

… Teilnahme am Leben anderer


Antonio wird zum Tröster belasteter Seelen, bewegt sich wie ein Engel durch das heutige Mailand. Er heitert die junge Lucia auf, mit der er nach einer gemeinsam absolvierten Prüfung Freundschaft schliesst. Und er kümmert sich um seinen Sohn Ivo, der als Musiker um Anerkennung ringt, begegnet ihm auch in schwieriger Situation mit dem nötigen Respekt. Und auch bei seiner Ex-Frau Adriana, die er zufällig trifft, gibt es einen menschenfreundlichen Abschied.

Wenn der erste Teil der Geschichte fast märchenhaft anmutet, wird der zweite ernst, traurig und kritisch. Doch auch hier bewahrt Antonio seine Menschlichkeit. Er verarbeitet den Tod des befreundeten Mädchens, leidet mit dem drogensüchtigen Sohn, erlebt Einsamkeit ohne seine Frau. Überall versucht er, den andern zu begegnen, was ihm gelingt, weil er das Leben als Wahrgenommen-Sein (Esse est percipi) versteht, wie es der Philosoph George Berkeley (1685 – 1753) postuliert. Mit-Sein ermöglicht Sein.

Unauffällig sensationell

Die Art und Weise, wie Gianni Amelio die Geschichte erzählt, ist meisterhaft. Das Aneinander der Sequenzen ist sanft rhythmisiert und im Detail klug ausgearbeitet wie ein Gedicht, in welchem jeder Satz, jedes Wort, jeder Laut Teil eines Ganzen ist und alles zueinander in Bezug steht. Das gilt wie für das Bild auch für den Ton. So verweisen etwa Saxophonklänge im Off auf Antonios Beziehung zu seinem Sohn Ivo und bringen die beiden zueinander. Das gilt für viele Bilder, die ganz oder teilweise dunkel oder unscharf sind, wo es auch im Leben Dunkelheit und Unschärfe gibt. Der Kameramann Luca Bigazzi filmte nicht wie Modefotografen, welche strahlende Sterilität zelebrieren. In «L’intrepido» zeigt die filmische Form, was Gianni Amelio als seine Interpretation unserer Welt sichtbar macht. Nicht äussere, leere Schönheit, sondern innere, wahre Schönheit zeichnet diese moderne Fabel aus dem heutigen Italien aus.
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Im Kurzeinsatz als Tramchauffeur

Der Filmemacher Gianni Amelio …

Gianni Amelio wurde 1945 in Kalabrien geboren und wuchs dort auf. Nach einem Philosophiestudium absolvierte er eine Ausbildung als Filmemacher, arbeitete als Kameramann und Regieassistent und drehte Dokumentarfilme. Mit dem Spielfilm «Colpire al cuore» erntete er 1982 viel Lob, diesem folgten 1991 «Porte aperte», 1991 «Il ladro di bambini» und 1994 «Lamerica», jeweils als bester italienischer Film, bis er 1998 für «Così ridevano» in Venedig mit dem Goldenen Löwen ausgezeichnet wurde.

Amelio zum Film: «Der Produzent sagt, der Film sei wie eine Wolke. Er verändere seine Form, während man ihn ansehe. Vielleicht hat er recht.» Weiter: «Als wir zu drehen begannen, bezeichnete ich den Film als Komödie, doch es gibt wohl viele, die mir widersprechen, auch wenn man oft lachen kann. Einige sind sehr berührt und vergiessen Tränen.» Und zu den Protagonisten meint er: «Ich schrieb die Geschichte beinahe instinktiv und auf einen Schauspieler zugeschnitten, den ich wirklich bewundere und mit dem ich schon seit langem arbeiten möchte. An seiner Seite wollte ich zwei junge, noch unbekannte Schauspielende haben, eine junge Frau und einen jungen Mann in den Zwanzigern, die den andern Hauptdarsteller ein wenig mit ihrer Unschuld anstecken konnten.»

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Lucia, ernst genommen, wahrgenommen.

… und der Hauptdarsteller Antonio Albanese

«Ich mag Gianni Amelios Kino. Ich mag seine Strenge und Präzision, seine Menschlichkeit und die scheinbare Einfachheit seiner Arbeit. Und ich wollte immer schon Teil davon sein. Amelios Filme sind immer irgendwie neu und überraschend, nicht konform. Da gibt es eine Achtsamkeit auf Details, Einzelheiten, die nie aufdringlich ist. Darüber hinaus liegt in seinen Filmen die Geschichte, die am meisten interessiert: das Heute. Müsste ich einen gemeinsamen Zug definieren, etwas, das uns verbindet, so sähe ich dies in einem steten und sehr gewissenhaften Bemühen, von unserer Zeit zu erzählen.»

Regie: Gianni Amelio
Produktionsjahr: 2013
Länge: 104 min
Verleih: trigon-film