Demo oder Grande Festà
Die beiden Ladenbesitzer verkaufen nicht nur ihre selbst hergestellten Produkte, sondern haben ihr Lokal als wichtigen Treffpunkt der lokalen LGBTQI+-Szene (Akronym für Lesbian, Gay, Bisexual, Transgender, Queer und Intersexuell) etabliert. Hier berichten Menschen von ihrem Liebesleben, suchen Rat und diskutieren Strategien, um in einer konservativen Kultur besser akzeptiert zu werden. Der von Frank Matter produzierte Film bringt uns eine bunte Gemeinschaft näher, die nie die Zuversicht und die Lebensfreude in ihrem Kampf verliert. Mit seinen herzerwärmenden Protagonist*innen verzückte der Film das Publikum an den Solothurner Filmtagen und gewann den «Prix du Public».
Massimo
Biografie des Regisseurs
Geboren 1963 in Arezzo, Italien, studierte Nicola Bellucci Philosophie, Literatur und Film an der Universität von Florenz und schloss sein Regiestudium 1988 ab, war als Autor und Kameramann in Italien tätig, zog nach Basel, wo er die Neuland-Filmproduktion gründete. Internationale Anerkennung erlangte er mit seinem wunderschönen und preisgekrönten Dokumentarfilmen «Nel giardino dei suoni» und mit «Grozny Blues».
Gino
Gedanken von Nicola Bellucci
Es beginnt immer mit der Liebe. Dieses Mal habe ich mich in Massimo und Gino «verliebt». Es begann zufällig, als ich eines Tages an «Quir» vorbeiging, ihrer Boutique in einer Gasse in Ballarò, einem Viertel in Palermo. Schnell wurde mir klar, dass das, was offiziell ein Geschäft für Handtaschen und andere Lederwaren ist, in Wirklichkeit eine Art Beichtstuhl oder eine Notaufnahme für hilfsbedürftige Seelen war und somit Teil einer 40-jährigen Geschichte des Kampfes für LGBTQI+-Rechte. Also hörte ich zu, und aus diesem Mikrokosmos heraus vervielfältigten sich bald die Charaktere zu einem Puzzle, das vor dem Hintergrund der Stadt zusammengesetzt werden muss. So entstanden Vivian, Ernesto und Charly.
Die Verbindung zwischen den Figuren im Film ist nicht durch die Fixierung von Positionen oder Brennpunkten gegeben, sondern durch die Bewegung, die Unruhe zwischen den Polen, ihre existenzielle Unsicherheit. Die einzelnen Geschichten finden alle gleichzeitig statt, und der Übergang von einer zur anderen erfolgt durch Kunstgriffe einer narrativen, visuellen oder assoziativen Ordnung: Es wird immer irgendein Detail sein, scheinbar unbedeutend, das von einer Geschichte zur nächsten führt.
Jede Geschichte begibt sich auf die Suche nach dem Sinn und strebt danach, sich wie der Film zu einer Geometrie zusammenzusetzen, deren Sinn sich aus dem Ganzen ergibt, aus den einzelnen Fragmenten, die ineinandergreifend den Faden des Diskurses weben. Die Montage wird so allegorisch, interpretierend: Sie greift auch auf Parodie und Ironie als Stilmittel zurück. Ziel war es, eine Art einfühlsame Verfremdung zu erreichen, bei der es den Emotionen der Figuren gelingt, den Betrachter zu fesseln, ohne sich auf eine blosse naturalistische Wiedergabe zu beschränken.
Massimo Milani wiederholte mir gegenüber oft den Satz eines Dichterfreundes und wies darauf hin, wie wichtig es ist, die Geschlechterfrage von einem «positiven» Standpunkt aus zu betrachten. Wie dieser zu Recht betont, geht es darum, «einen Blick zu vermeiden, der tötet», den er als «nekropolitisch» bezeichnet und der in der filmischen Darstellung der Queer-Welt häufig verwendet wird. Ich hoffe, dass es mir gelungen ist, in meinem Film die aktive Freude zu vermitteln, die von jedem der Körper ausgeht, die die Schwelle des «Quir» überschreiten.
Gino und Massimo
Die Protagonist*innen
Massimo Milani und Gino Campanella trafen sich vor fast 50 Jahren, und es war Liebe auf den ersten Blick: Gino verliess seine Frau und beide Kinder und zog mit Massimo zunächst nach Rom, danach in eine Wohnung in Palermo. Seit Anfang der 1970er Jahre war ihr gemeinsames Leben als Aktivisten bei FUORI!, der Einheitsfront der revolutionären Homosexuellen Italiens, immer vom Kampf für die Bürgerrechte geprägt. Nach mehr als 40 Jahren Liebe und Kampf haben Massimo und Gino beschlossen, in Giarre zu heiraten, in Erinnerung an ein Ereignis, das die Geschichte der LGBTQ+-Bewegung in Italien geprägt hat: die Ermordung von Giorgio und Toni, einem jungen Liebespaar. Es war dieses homophobe Verbrechen, das den Anstoss für die Gründung von ARCIGAY gab. Massimo und Gino haben die Organisation für Homo- und Bisexuelle 1980 in Palermo mitgegründet. Das Paar hat jahrzehntelang alles riskiert, war Spott, Ausgrenzung und Gewalt ausgesetzt. «Homophobie ist eine schreckliche Sache», sagt Gino. «Wir tun alles, was wir öffentlich tun, um andere Homosexuelle dazu zu bringen, sich zu outen.» Im Laufe der Jahre hat Massimo seinen Körper einer Transformation unterzogen. Manche nennen sie Massimona. Sie lacht und sagt: «An einem bestimmten Punkt in meinem Leben habe ich erkannt, dass es etwas zwischen Mann und Frau geben kann.»
Ernesto
Ernesto Tomasini ist ein erfolgreicher Drag Queen Sänger und Performer. Er hat eine aussergewöhnliche Kastratenstimme, ist ein Star der weltweiten alternativen Szene: Er nennt sich selbst «die degenerierte Version von Julie Andrews». Ernesto ist ein «fluider» Schwuler, der sich jeder Identifizierung verweigert: Er liebt es, sich zu verwandeln. Viele Jahre lang lebte er in London. Dann unterbrach er seine glänzende Karriere und widmete sich ganz der Pflege seiner 94-jährigen Mutter: Sie leidet an Demenz und ist nicht mehr selbständig. Er lebt den ganzen Tag bei ihr und verlässt kaum noch das Haus. Sein Leben wird zur Hölle, aber seine Liebe zu seiner Mutter ist stärker.
Vivian
Vivian Bellina wohnt im Quartier Ballarò. Fast täglich geht sie bei Massimo und Gino in der Boutique vorbei, um sich zu unterhalten. Ihr Alltag ist nicht leicht, oft wird sie mit der Transphobie ihrer Nachbarschaft konfrontiert. In Massimo hat sie eine Stütze gefunden, auch um die vielen Zweifel, die sie auf ihrem Weg der Transformation begleiten, anzusprechen. Für ihre Zukunft strebt sie eine Schauspielkarriere an.
Charly
Charly Abbadessa, 92, ist als Sohn Sizilianischer Emigranten in New Haven (Connecticut) aufgewachsen. In den frühen 1960er Jahren zog er nach New York und war lange mit Robert Lewis, Gründer des Actors Studio, zusammen. Er verkehrte mit berühmten Hollywood Stars wie Marilyn Monroe und John Cassavetes. In Palermo lebt er nun in einem grossen, halb leeren Haus. Er gilt als Pate der Homosexuellenszene in Palermo. Jeder hatte Kontakt mit ihm, wenn auch nur kurz. Charly lebt von seinen Erinnerungen, den vergangenen gloriosen Zeiten und bedauert den Verlust seines jugendlichen Aussehens.
Schlussbilder und Schlussworte, die weiterführen
Gegen Ende des Films, beim Gang durch die Stadt und zum Friedhof, gibt es Szenen, die haften bleiben. Und auch Sätze wie jene von Vivian: «Ich bin am Werden. Von heute an will ich die Wahrheit, möchte ich mich gut fühlen, möchte frei sein und lieben.» Von Ernesto: «Ewig leben!» Oder von Charly: «Alle Schönheit verschwindet mit dem Tod. Ich möchte nicht sterben, ich möchte, dass wir ewig sind.» Oder von Massimo: «Küss mich, Dummkopf!» Wer all dies gesehen und gehört hat, der oder die sieht und hört die Welt und das Leben vielleicht ein bisschen anders.
Anmerkungen des Produzenten Frank Matter
Regie: Nicola Bellucci, Produktion: 2024, Länge: 105 min, Verleih: Cineworx