Lourdes

Die Regisseurin Jessica Hausner beschreibt am Beispiel eines «Wunders» in Lourdes die grundlegenden Konstanten der menschlichen Selbstfindung mit Diskretion, lakonischem Humor und Fragen, die offen bleiben.

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Wer unter dem Titel «Lourdes» eine böse Religionskritik oder einen frommen Heiligenfilm erwartet, kommt nicht auf seine Rechnung. Die österreichische Regisseurin Jessica Hausner zielt auf etwas ganz Anderes. Der Film beginnt mit einer Totalen und schwenkt über einen grossen Speisesaal, wo in Lourdes für die Pilgernden das Morgenessen aufgetragen wird. Und er endet damit, wie eine Gemeinschaft von Pilgernden sich auflöst, die einzelnen ihre eigenen Wege gehen. Eine davon ist Christine, die eines Tages von ihrem Rollstuhl aufsteht, an den sie anfänglich durch ihre Multiple Sclerose gefesselt gewesen war. An Wunder glaubt sie zwar nicht, doch auf eine Heilung hoffte sie dennoch, obwohl sie die Wallfahrt vor allem der Geselligkeit wegen machte. Wie es für sie – und für uns – weiter geht, bleibt offen.

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Christine, skeptisch und hoffend zugleich

Krank und isoliert, geheilt und verliebt

Die Hauptfigur des Films ist die gelähmte Christine (eine grossartige Sylvie Testud). Durch ihre Augen erleben die Zuschauerinnen und Zuschauer, eingeschränkt durch ihre Bewegungsunfähigkeit, die Welt am Wahlfahrtsort. Ihr durch die Krankheit verändertes Leben hat sie in eine unfreiwillige Isolation gezwungen, die sie überwinden möchte. Sie sehnt sich danach, wieder dazu zu gehören, alles tun zu können, was die anderen problemlos machen, normal zu sein. Ihre Sehnsucht nach menschlicher Gemeinschaft und Nähe ist ihr ins Gesicht geschrieben. Bei Maria, der jungen Malteserin, einem Mitglied des Lourdes-Krankendienstes, die Christine betreut, sieht sie Bilder ihrer Vergangenheit, die Hoffnungen wecken. Maria begleitet Christine in die Bäder und zu den Prozessionen und hilft ihr bei den täglichen Verrichtungen. Diese selbst aber sehnt sich nach ihresgleichen und versucht dem Anblick der Krankheit zu entkommen und sich wie andere Mädchen ihres Alters zu amüsieren. Christine beobachtet die aus der Ferne, während sich nun Frau Hartl ihrer annimmt, eine Pilgerin, die zwar keine körperlichen Gebrechen hierher bringt, sondern, von ihrer lebenslangen Einsamkeit gequält, diese hier lindern möchte. Ihre wortlose Leere wartet darauf, gefüllt zu werden durch eine Aufgabe, durch einen Sinn, den sie darin findet, sich der Kranken anzunehmen und für sie zu beten. Und ihr Gebet wird erhört. Im Verlauf des Aufenthaltes kommt es zu einer Besserung von Christines Zustand, bis hin zu einer Heilung. Sie kann wieder gehen. Das Wunder wird vom Ärztekomitee geprüft. Das Ergebnis ist fraglich, da ihre Krankheit die Möglichkeit schubhafter Besserung wie Verschlechterung kennt. Während die Möglichkeit eines Rückfalls drohend über ihr schwebt, geniesst sie das Glück, das sich für diesen Moment für sie erfüllt hat und versucht es festzuhalten. Vor allem ist es jedoch der Malteser-Pflegers Kuno, in den sie sich verliebt hat, der sie zu glücklich macht.

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Maria, mit andern Jungen sich amüsierend

Die Grundfragen des Glaubens bleiben offen.

Wenn es um Wunder, Glauben und Religion, wenn es um Unglück, Schicksalsschläge und Katastrophen geht, stellen sich immer wieder zwei grundsätzliche Fragen, die sich Dichter und Denker über die Jahrhunderte hin gestellt haben. Die erste: Wenn Gott allmächtig und liebend ist, wie kann er das Erdbeben von Haiti zulassen, hundert Tausend Menschen sterben und die Überlebenden leiden lassen? Ist er nur das eine oder das andere?

Die zweite Frage, die sich in unserer Nähe fast täglich stellt, wenn Unglück und Tod uns persönlich treffen, wenn Krankheit, Not und ein Schicksalsschlag über uns oder die Nächsten kommt: Warum gerade ich? Warum nicht er, warum nicht sie? Steht dahinter ein weiser oder böser Plan, eine Vorsehung? Ist es Zufall? Auch dazu finden sich in der Literatur, angefangen bei Hiob in der Bibel, unzählige Fragende.

Diese beiden Fragen werden «en passant» von Pilgernden dem Priester, der sie begleitet, gestellt. Er gibt ihnen eine schön formulierte Antwort, mit der sie sich für den Augenblick und in der religions-schwangeren Atmosphäre von Lourdes zufrieden geben. Undenkbar, dass diese Fragen ihnen später nicht neu auftauchen. Eine Qualität des Filmes ist es gerade, dass er diese Frage nicht wirklich zu lösen versucht, sondern bloss zitiert und als Hintergrund während des ganzen Films – und darüber hinaus – offen lässt.

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Malteserinnen mit den Kranken zum Bad

Die Grundfrage der Hoffnung und der Liebe finden Antworten.

Worum es der Regisseurin mit der Figur der Christine wohl im Innersten geht, das ist, scheint mir, deren Hoffnung, Menschen zu treffen, einem Menschen zu begegnen und dadurch lebendig zu werden. «Alles wirkliche Leben ist Begegnung», meint Martin Buber. Sie trifft einen Malteser-Helfer und begegnet ihm. Diese Begegnung läuft so lange, bis sie den charmanten Kuno und dieser die geheilte kranke Christine zu lieben beginnt. Der Satz «Amor ergo sum» (Ich werde geliebt, also bin ich) von Thomas von Aquin trifft hier zu wie nur selten. Und das soll kein «Wunder» sein – im völlig weltlichen Sinn! Auch wenn die Liebe nicht anhält, die Heilung nur vorübergehend ist, alles mit dem Tode endet.

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Christine und Kuno: «Ich werde geliebt, also bin ich.»

Zwei Nachbemerkungen

In meinen Augen nicht unwichtig, dass ein breites Kinopublikum hier Behinderte, Gebrechliche und Kranke in grosser Zahl an einem Ort versammelt sieht: in ihren Behinderungen, ihren Gebrechen, ihren Krankheiten. Als Gegenbild zum Menschen-Bild, das sich Politiker vor allem immer wieder von den Menschen machen. Allzu oft meinen sie, es gebe nur gesunde, tätige, leistungsfähige, glückliche Menschen, und sehen dabei nur jene auf den Strassen, am Arbeitsplatz, in den Zügen, auf dem Flughafen, im Theater. Kaum einmal jene in den Spitälern, in den Kliniken, in den Hospizen – und all die Einsamen hinter verschlossenen Türen. Aus dieser einseitigen Wahrnehmung entstehen dann oft einseitige, ungerechte, unsoziale Gesetze. Dieser Film kann helfen, solches zu korrigieren.

Die Auszeichnungen, die der Film erhalten hat, können vielleicht motivieren, hinter der Oberfläche seine tieferen Dimensionen zu erkennen. «Lourdes» wurde 2009 bei den Filmfestspielen von Venedig mit dem renommierten Fipresci-Preis der internationalen Filmkritik, dem Signis-Preis der ökumenischen Jury sowie mit dem La Navicella- und dem Brian-Preis ausgezeichnet. Bei der Viennale gewann er im gleichen Jahr den Wiener Filmpreis für den besten Spielfilm, und ausserdem wurde er mit dem Grand Prix bei Warsaw Film Festival und mit dem Gold Giradillo beim Sevilla Festival de Cine ausgezeichnet.

Aus zwei Interviews mit der Regisseurin Jessica Hausner

 

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Gruppenbild mit Kirche, vor dem Abschied

Ist Ihnen schon einmal ein Wunder passiert?

Die Antwort muss natürlich Nein lauten. Ein Wunder im kirchlichen Sinn ist ja eine spirituelle Angelegenheit. Das ist ja auch das, wogegen sich mein Film verwehrt. Da passiert vielleicht ein Wunder, es wird aber gleichzeitig in Frage gestellt, ob dies gleichbedeutend ist mit einer spirituellen Heilung. Und das ist es – in diesem Film – eben nicht. In dem Sinne ist mir auch noch kein Wunder passiert.

Wenn Sie von spiritueller Heilung sprechen, was heißt das für Sie?

Für mich heißt das nicht viel, weil es ja nicht meine Erfindung ist. Spirituelle Heilung wird von der katholischen Kirche eingefordert als Teil einer Wunderheilung. Es genügt nicht, wenn der Körper geheilt wird, die Seele muss mitgeheilt werden. Ich nehme an, dass damit gemeint ist, dass man gläubig wird, dass man einen Bezug zum Glauben findet, zu Gott, dass man sich in dieser Religion wieder findet.

Geben Sie damit den Interpretationsweg der Christine vor, die ja nicht im katholisch-kirchlichen Sinn gläubig ist und daher wieder rückfällig werden «muss»?

Das könnte jemand sagen, der in diesem Film vorkommt. Aber ich glaube prinzipiell nicht, dass eine Wunderheilung mit gläubig sein zu tun hat.

Womit hat sie zu tun?

Mir geht es um die Ambivalenz des Glaubens, und für mich ist das Wunder in meinem Film, so wie ich es erzähle, eine Metapher oder wenn man so will, eine Überhöhung eines ganz existentiellen Wunsches, den womöglich jeder mit sich herumträgt. Nämlich der Wunsch, ein erfülltes Leben zu führen und auch, so etwas wie einen Sinn in seinem Leben zu finden. Das hat sicherlich auch damit zu tun, dass man nicht daran denken möchte, dass das Leben endlich ist. Aber in erster Linie geht es um diese Sehnsucht nach Glück und den Wunsch, das Glück festhalten zu können. Mein Film handelt auch sehr stark davon, dass einem das Glück schon widerfahren kann, aber dass das noch lange nicht heisst, dass man dann den Gipfel des Berges erreicht hat und verschnaufen kann sondern, dass sich die Dinge schnell wieder ändern und neu zusammenwürfeln können.

Wie erlebten Sie den Wallfahrtsbetrieb in Lourdes?

Als ich das erste Mal in Lourdes war, war das für mich ein absoluter Schock. Ich sah dort so viele kranke Menschen, die hofften und beteten, wieder gesund zu werden. Diese Hoffnung hat mich sehr berührt, aber auch auf abschreckende Weise. Weil das Hoffen auf ein Wunder viele Befürchtungen auslöst. Ich habe mir immer vorgestellt, ich sei ein japanischer Forscher, der sich Lourdes anschaut. Er sieht Menschen, die extra dort hinfahren um zu beten und darauf hoffen, dass Gott ihnen hilft. Gleichzeitig wissen diese Menschen aber auch, dass Gott eigene Pläne hat und «seine Wege unergründlich» sind, wie es so schön heisst. Dieser seltsame Gegensatz ist faszinierend.

(Interview von Manfred Greuling und Alexandra Zawia)

Wie kommt eine österreichische Filmemacherin nach Lourdes?

Ich wollte einen Film über ein Wunder machen und habe nach verschiedenen Orten und Geschichten, die von Wundern handeln, recherchiert. Lourdes hat am besten gepasst, da dort angeblich Wunder passieren, es gehört irgendwie dazu: Man fährt insgeheim mit der Hoffnung dorthin, dass man vielleicht geheilt wird. Ich fand es spannend, an einem Ort diesen Film zu erzählen, wo das so quasi zum Alltäglichen dazugehört – ein Wunder.

Was war der nächste Schritt in Lourdes, das einerseits als katholische Legende und andererseits als betriebsamer Ort voller Organisation zu sehen ist?

Der Ablauf einer Pilgerreise und auch die religiösen Rituale, das sind festgelegte Handlungsabläufe, die dort stattfinden. Für mich war es interessant, diese Rituale zu recherchieren. Im weiteren Sinn ging es mir darum zu sehen, wie sich eine Gruppe von Menschen verhält, wenn klare Regeln vorgegeben sind, wie etwa bei einem kirchlichen Ritual. Es ist völlig klar, dass das keine individuellen Handlungen sind, sondern ein Ritus. Und von dem erwartet man sich etwas. Indem man rituelle Handlungen ausführt, wendet man sich – in dem Fall – an Gott oder an ein grösseres Ganzes.

Diese Rituale unterscheiden sich mitunter, wie man im Film sieht, nicht wesentlich von einer normalen Kunstreise von Kulturtouristen, die durch diverse Sehenswürdigkeiten durchgeschliffen werden. Den Freiraum, den man sich vielleicht in seinen Wünschen erhofft, ist da letztlich sehr eingeschränkt.

Es gibt zwei gegensätzliche Aspekte in «Lourdes». Zum einen gibt es das vorgeformte Handeln und eben diese gesellschaftliche Struktur, diese Hierarchie. In der Gruppe, gibt es die Chefs, die Pilger und die Kranken. Jeder erfüllt in gewisser Weise seine Aufgabe. Zum anderen gibt es das Wunder, also irgendwie das Paradoxe, das Absurde: Das, was niemand erwartet hat; auch wenn man es vielleicht insgeheim erhofft. Diese Kräfte stehen sich im Film gegenüber.

«Einen Film über ein Wunder machen»: Man könnte sagen, Ihr Film behandelt auch die Frage, ob ein solches Wunder nicht auch eine Zumutung ist und eine grössere Belastung darstellt als der vorherige, unglückliche «kranke» Zustand. Könnten Sie den Aspekt des Wunders für eine filmische Erzählung genauer beschreiben?

Ein Wunder ist etwas Ambivalentes. Es ist schön für denjenigen, dem es widerfährt. Gleichzeitig drückt es aber auch die Ungerechtigkeit aus, da es zufällig ist, und dass es, so wie es kommt, auch wieder verschwinden kann. So beglückend es auch sein mag, wenn ein Gelähmter wieder gehen kann, so ist es gleichzeitig beängstigend. Es zeigt, dass es jederzeit passieren kann, und zwar irgendwem, dass es aber genauso auch vergehen kann. Es zeigt somit die Vergänglichkeit des glücklichen Moments.

Abseits dieses spezifischen, katholischen Settings in Lourdes, stellt Ihr Film die verschiedensten Konstellationen von Liebe in Frage. Ist das eine grundlegende Skepsis von Ihnen gegenüber solchen Hoffnungsmomenten?

Das Drama, um das es in «Lourdes» geht, handelt davon, dass man eben hofft, alles möge gut ausgehen. Man erwartet Liebe; hat Sehnsucht; hofft, dass irgendwer ein Netzt ausspannt. Im Gegensatz dazu erkennt man jeden Tag, dass dem nicht so ist, dass das Weltall dunkel und kalt ist und man am Ende sterben wird. Das was man tut, ist vielleicht gut, aber es führt nicht dazu, ein erfülltes, glückliches Leben zu haben. Es geschehen andere Dinge, egal ob man diese «Zufall», «Glück» oder «Gott» nennt, die stärker sind, und die Dinge nehmen somit einen unerwarteten (unerwünschten oder unverhofften) Verlauf. Dieser Gegenpart ist mächtig und hat viel mit der Willkür der Ereignisse zu tun.

Diese Dunkeltönungen des Lebens scheinen Ihnen als Filmemacherin sehr entgegenkommend. Sylvie Testud (Christine) hat ja eine gewisse Ähnlichkeit mit Ihnen. Gab es da eine Art Method Acting der Regisseurin, einen besseren Zugang, um mit dieser Figur mitzugehen?

Im Gegensatz zu meinen vorigen Filmen ist bei «Lourdes» diese andere Kraft, die Hoffnung, stärker präsent. Und die Arbeit an einem Film ist auch ein Weg etwas über mich herauszufinden oder über das, was mich, aber natürlich auch andere beschäftigt. Es geht darum anhand dieser Filme eine Erfahrung zu machen, etwas herauszufinden. Während der Recherche habe ich viel mit Gelähmten oder an Multiple Sklerose Erkrankten gesprochen. Sich mit diesen Menschen zu beschäftigen, sich mit dieser Extremsituation – in einem Rollstuhl sitzen zu müssen – auseinanderzusetzen, das hat auch einen therapeutischen Effekt gehabt. Es ist mir gelungen, die Situation auf Menschen, die nicht gelähmt oder krankt sind, zu übertragen. Diese Situation, in welcher man sich in seinem Leben eingeschränkt fühlt und eben nicht das haben kann, wovon man träumt. Bestimmte Dinge haben sich anders entwickelt, als man es sich früher erhofft hat oder sich noch immer wünscht. Man fragt sich oft, «was tue ich da eigentlich in diesem Leben?», «wo führt mich das hin?». Das sind Erfahrungen und Fragen, die Gesunde und Kranke gleichermassen beschäftigen. Diese werden oft als Einschränkung empfunden. Um da herauszugehen, einen Schritt weiter zu gehen und zu sagen,«wie lebe ich dieses Leben weiter», das ist der beglückende Aspekt der Geschichte, das ist auch dieses Aussteigen aus dem Rollstuhl.

(Das Gespräch führte Claus Philipp)