Lunana

Ein Lehrer lernt Achtsamkeit: Der Dokumentarspielfilm «Lunana» von Pawo Choyning Dorji ist ein Hymnus auf Erziehung und Bildung als Formen achtsamen und liebevollen Menschseins – dargestellt und erlebt in den faszinierenden Landschaften Bhutans.
Lunana

Ugyen mit Schülerin

Ein berührender Film, in Zeitlupe möchte man sagen, so sanft nähert er sich den wunderbaren Menschen und Landschaften. Der angehende Lehrer Ugyen lebt in der Hauptstadt Bhutans und träumt davon, einmal in Australien als Musiker Karriere zu machen. Doch der Staat verknurrt ihn dazu, das letzte Jahr seiner Ausbildung in Lunana als Lehrer zu arbeiteten, hoch oben am Fusse des Himalaya, 4000 m. ü. M. Hier wartet ein Dutzend wissbegierige Kinder, unterrichtet zu werden, trifft er auf eine Gemeinschaft, die ihm respektvoll begegnet, auf Menschen, die der Überzeugung sind, dass Lehrer «die Zukunft der Kinder berühren». Kinder, denen wir hier begegnen, wären bei uns wohl der Traum von jedem Junglehrer, nicht jedoch von Ugyen.

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Die Kinder gewinnen Ugyens Herz

Bruttosozialglück statt Bruttosozialprodukt

Der bhutanische Regisseur Pawo Choyning Dorji lädt uns mit Ugyen zu einer Reise ein in ein Dorf, in dem die Kinder mit wenig zufrieden sind und die Erwachsenen behutsam miteinander umgehen. Die Geschichten, die der Film erzählt, setzen sich aus wahren Begebenheiten zusammen, in denen alle sich selbst spielen. Das Mädchen Pem Zam etwa rührt das Herz Ugyens und wohl auch unseres. Hier erfährt der Lehramtskandidat mehr über den Beruf als in der ganzen bisherigen Ausbildung. Und er scheint auch zu spüren, was das Bruttosozialglück bedeutet, das der König von Bhutan seinem Land verordnet hat und höher gewichtet als das Bruttosozialprodukt.

Der Film «Lunana - ein Yak im Klassenzimmer» erweist sich als stilles Suchen nach dem Glück, das wir gerne weit weg suchen, wo es doch oft so nahe ist, wo die hübsche Hirtin Saldon mit ihren Liedern Ugyen die Mythen ihres Tales lehrt und ihn erfahren lässt, dass es in den zwischenmenschlichen Beziehungen Tiefe und Höhen des Glücks gibt. Seine allmähliche Annäherung an die Schulkinder wie auch die Erwachsenen geschieht leise und mit Achtsamkeit.

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Saldon lehrt Ugyen die Lieder des Tales

Lehrer berühren die Zukunft der Kinder

Der junge Ugyen drückt sich vor seiner Pflicht als Lehrerkandidat, macht sich aber gleichwohl, wenn auch ohne Motivation, auf den Weg nach Lunana. Einer stundenlangen Fahrt durch sattes Grün folgt ein achttägiger Trek, bei dem die saftigen Hügel langsam einer faszinierenden Bergwelt weichen. Er aber schenkt weder seinen Begleitern noch der Natur Beachtung, ist mit seiner körperlichen Kondition und seinem iPod beschäftigt. Es scheint, als hätten die Menschen in Lunana seine Ankunft kaum erwarten können: Vor dem Dorfeingang stehen sie Spalier und holen ihn ab. Er wird mit ehrerbietiger Gastfreundschaft und zurückhaltender Offenheit empfangen, was ihn rührt und gleichermassen überfordert. Den Dorfvorsteher lässt er jedoch wissen, dass er möglichst schnell wieder abreisen will. Dieser lässt ihm die Freiheit; doch eine Rückreise sei erst möglich, wenn die Maultiere ein paar Tage geruht hätten.

Widerwillig lässt er die muntere Kinderschar sein Herz gewinnen. Erwartungsvoll und neugierig saugen sie alles auf, was er ihnen beibringt, und wecken in ihm den Tatendrang. Immer seltener denkt er ans Weggehen, er korrigiert sein Bild von Lunana. War ihm die Hoffnung, die ihm entgegengebracht wird, anfangs noch Bürde, blüht er mehr und mehr auf und öffnet sich den andern und sich selbst. Und da gibt es auch noch die junge Saldon, die Ugyen, und wohl auch uns, mit ihrem Gesang verzaubert. Bis ihn ein Brief aus Australien erreicht und der schulfreie Winter anbricht. –

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Der Regisseur Pawo Choyning Dorji. (c) imdb.com

Anmerkungen des Regisseurs

Als die Nation des Bruttosozialglücks ist Bhutan angeblich das glücklichste Land der Welt. Aber was bedeutet es wirklich, glücklich zu sein? Und sind die Bhutanerinnen und Bhutaner wirklich so glücklich? Ironischerweise verlassen viele Bhutan, das Land des Glücks, um ihre eigene Version von Glück in den modernen Glitzerstädten des Westens zu suchen. Mit «Lunana» wollte ich eine Geschichte erzählen, in der Ugyen, der junge Protagonist, ebenfalls auf die Suche nach seinem Glück gehen möchte. Allerdings wird er dafür auf eine andere Reise geschickt. Widerwillig begibt er sich in eine Welt, die sich in jeder Hinsicht von der modernen Welt unterscheidet. Dabei erkennt er, dass das, was wir so verzweifelt in der äusseren materiellen Welt suchen, eigentlich immer in uns existiert, und Glück nicht wirklich ein Ziel ist, sondern der Weg dorthin.

Der Film wurde in der abgelegensten Schule der Welt, im Dorf Lunana, gedreht. Das Dorf ist eine Siedlung, die an den Gletschern des Himalaya liegt und nur über einige der höchsten Berge der Welt erreichbar ist. Von den 56 Menschen, die dort leben, haben die meisten noch nie die Welt ausserhalb ihres Dorfes gesehen. Lunana bedeutet wörtlich das dunkle Tal, ein Tal, das so weit entfernt ist, dass nicht einmal das Licht es erreicht. Das Dorf ist so abgelegen, dass es dort noch heute weder Strom noch eine Mobilfunkverbindung gibt.

Obwohl es eine grosse Herausforderung war, wollte ich den Film unbedingt in Lunana drehen, inspiriert von der Reinheit des Landes und der Menschen. Ich wollte auch, dass alle, die an der Produktion beteiligt waren, diese lebensverändernde Reise miterleben, damit sich die Authentizität der Erfahrung auf den Film übertragen kann. Die Hauptthemen der Geschichte sind die Suche nach Glück und einem Gefühl der Zugehörigkeit – universelle Themen, mit denen sich jede und jeder identifizieren kann, unabhängig von Kultur und Hintergrund. Allerdings wollte ich diese Themen über einen Ort wie Lunana sichtbar machen: Eine Welt und ein Volk, die sich nicht nur vom Rest der Welt unterscheiden, sondern auch innerhalb von Bhutan einzigartig sind. Ich wollte zeigen, dass selbst in einer so singulären Welt die Hoffnungen und Träume, die die Menschheit verbinden, die gleichen sind.

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Dreimal zieht die Gruppe über Brücken

Versuch einer Würdigung

Pawo Choyning Dorji ist Schriftsteller, Fotograf, Filmemacher und Zen-Buddhist. Sein Debütfilm «Lunana» erzählt nicht bloss eine berührende Geschichte aus einem fremden Land, sondern gleichzeitig ein Gleichnis von allgemeingültiger Bedeutung.

Intensiv berühren mich in diesem Film die Gesichter in ihrer Authentizität und Schönheit. Dies vielleicht auch deshalb, weil das kommerzielle Kino, im Extremfall Hollywood, die menschlichen Gesichter allzu oft zu konformen, toten Masken erstarren lässt. Die Gesichter in «Lunana» hingeben sind Ausdruck gelebten Lebens, sind Paysages d'âmes, Seelenlandschaften, intim, doch nie indiskret gefilmt, die uns wie zur Haupthandlung Geschichten erzählen.

Neben den Gesichtern sind es die Gesten sowie die Räume und Gegenstände, die mir aufgefallen sind. Sie erinnern mich an den Satz von Béla Balàsz, «Der Film kennt keine reine Äusserlichkeit und keine leere Dekorativität; eben weil im Film alles Innere an einem Äusseren zu erkennen ist, darum ist auch an allem Äusseren ein Inneres zu erkennen.»௩

Die Worte und Bilder, die in «Lunana» das Lehren und Lernen thematisieren, verweisen in ihrer Welt auf Zen und bei uns vielleicht auf Buber, Pestalozzi, Freire oder Virilio. Dass der Film ein solch vielfältiges Weitersinnieren und -denken zulässt und anregt, spricht für die Breite und Offenheit von Pawo Choyning Dorji. «Luana» hat mich als ehemaligen Lehrer durch seine unaufdringliche Schönheit und Tiefe im Herzen berührt und meinen Geist bewegt.

Anmerkungen des Produzenten von «Lunana»
Statement des Autors (englisch)

Regie: Pawo Choyning Dorji, Produktion: 2020, Länge: 109 min, Verleih: trigon-film