Luzzu

Der junge Mann und das Meer: Jesmark, ein Fischer auf der Insel Malta, sieht sich gezwungen, den seit Generationen gelebten Beruf aufzugeben. Alexander Camilleri verleiht im Spielfilm «Luzzu» seiner Familiengeschichte eine allgemeingültige Dimension. Ab 18. November im Kino
Luzzu

Jesmark in seinem Luzzu

Der Fischer Jesmark, den die Umstände zwingen, die Tradition seiner Familie hinter sich zu lassen und alles zu riskieren, um seine Freundin und sein neugeborenes Baby zu versorgen, begibt sich in die Welt des Schwarzmarktes und in eine noch umfassendere Abhängigkeit. – Selten erlebt man die Situation eines traditionsreichen Berufs im Mittelmeer so hautnah und mit so vielen Facetten wie in «Luzzu». Der amerikanisch-maltesische Alex Camilleri hat mit seinem Spielfilmdebüt ein mitreissendes und hintergründiges Drama geschaffen, das vor malerischer Kulisse einen seltenen Blick auf das unbekannte Malta wirft.

Luzzu heisst in Malta ein kleines Fischerboot, das nicht durch die Grösse, sondern seine bunten Farben auffällt. Seit Generationen fuhren die Fischer mit solchen Luzzus auf das Meer, um mit Stellnetz und Langleine zu fischen und einen guten Fang auf den Markt zu bringen. Jesmark, der auch im wirklichen Leben so heisst und Fischer ist, ist einer von ihnen. Viele gibt es nicht mehr, denn das Meer ist leergefischt, die Bedingungen sind durch EU-Gesetze schwierig geworden. Was politisch dem Schutz vor der Überfischung dienen sollte, schmälert im Alltag die Möglichkeiten für Fischer wie Jesmark. Parallel dazu hat sich eine Schattenwirtschaft etabliert, die mit ihren mafiösen Strukturen dem Berufsstand noch den Rest gibt.

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Denise, Jesmarks Frau und Mutter von Aidan

Wie die Weltwirtschaft eine Familie verändert

Ein Leck. Das hat gerade noch gefehlt. Der junge Jesmark lenkt sein Luzzu zurück in den Hafen. Die mit Liebe und Stolz über Generationen vererbte «Ta’Palma» mit den in den Bug geschnitzten phönizischen Augen hat zwar schon manche Reparatur überstanden, doch jetzt wird das Geld des Paares knapp. Jesmark ist eben erst Vater geworden. In dieser neuen Rolle geht er auf; jene des Fischers dürfte er, wenn es nach seiner Partnerin Denise ginge, gerne aufgeben, wie es viele seiner Kollegen bereits gegen die Abfindung eines EU-Programms getan haben. Grund dazu gäbe es genug: Fische gibt es weniger, diese werden von den grossen Trawlern gefangen oder dürfen, behördlich verordnet, nur zu vorgeschriebenen Zeiten gefangen werden. Doch Jesmark, stolz und um die Familientradition besorgt, liebt seinen Beruf, die Gemeinschaft der Fischer und das Meer, hat auch nie eine andere Zukunft in Betracht gezogen.

Als der kleine Aidan krank wird und Medikamente braucht, wendet sich Denise voller Sorge an ihre Mutter. Jesmark, von dieser nie wirklich akzeptiert, verspricht, für die Familie zu sorgen. Er kümmert sich: repariert sein Luzzu, arbeitet bei seinem Freund David, eilt, als sein Fang vom neuen Preismacher auf dem Grossmarkt ignoriert wird, von Restaurant zu Restaurant und versucht, die Fische loszuwerden. Er bleibt hartnäckig, als die babysittende Schwiegermutter ihn nicht ins Haus lassen will, um seinen Sohn in den Schlaf zu wiegen; er befolgt pflichtbewusst das Gesetz und wirft einen lukrativen Schwertfisch ins Meer zurück, als dieser bei ihm ins Netz gegangen ist, hart für ihn, beobachtet er doch, wie ein ebensolches Tier durch die Hintertür in den Grossmarkt geschleust wird.

Die Versuchung, sich ebenfalls Zugang zu dieser Tür zu verschaffen, ist gross. Denn was nützen Tradition, Erbe und Prinzipien, wenn es für die Familie nicht reicht? Diese Frage quält Jesmark, stürzt ihn in ein moralisches Dilemma. Dass sich Denise ihrer Ideale entledigt und ihrer Mutter annähert, mit dem «Betrüger»-Onkel zu arbeiten in Erwägung zieht, lässt ihn ungläubig zurück. Doch auch andere traditionsbewusste Fischer erscheinen im Fischereibüro, um mit der «dauerhaften Einstellung der Fischerei» ihre Existenz zu sichern – indem die selbstständigen, wenn auch in bescheidenen Verhältnissen lebenden Fischer zu Angestellten einer Grossfirma und schliesslich zu Rädchen im System der europäischen Wirtschaft werden.

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Jesmark mit seinen Fischer-Kollegen

Aus einem Interview mit dem Regisseur Alex Camilleri

(integral im Anhang)

Ihr Film bietet ein anschauliches Beispiel für die Kämpfe zwischen Tradition und Moderne. Wo stehen Sie?

Ich sympathisiere mit Jesmark, wenn er hadert, dieses reiche Erbe, mit dem er aufgewachsen ist, abzulegen. Unsere Familien geben unserem Leben ein Fundament. Gleichzeitig können sie unsere Freiheit einschränken und das Wachstum, das vielleicht notwendig ist. Jesmarks Boot ist seine Verbindung zur Vergangenheit – Generationen von Vätern und Söhnen, die dieses Schiff mit Liebe und Stolz weitergereicht haben. Aber das Luzzu bekommt eine neue Bedeutung für Jesmark, da er in einem sich schnell modernisierenden Land erwachsen wird, in dem kein Platz für traditionelle Fischer bleibt. Ich denke, diese Art von Dilemma ist oft in Einwanderungsfamilien zu spüren, auch in meiner eigenen. Meine Eltern sprachen bei uns zu Hause Maltesisch miteinander, waren aber der Meinung, dass es unsere Assimilation in den USA behindern würde, wenn sie den Kindern ihre Sprache beibringen. Ich verdenke es ihnen nicht, obwohl es mich immer noch traurig stimmt. Es scheint, dass jede Familie ein Luzzu hat.

Manchmal fühlt sich «Luzzu» fast dokumentarisch an, mit viel Realismus. Sind Sie dieser Form des Kinos zugetan?

Am meisten bewegen mich Filme, die sich die Realität zunutze machen. Für mich ist das die grösste Stärke von bewegten Bildern: dem Publikum etwas zwingend Reales und Unerwartetes zu zeigen. In «Luzzu» wollte ich das Publikum in mehrere Welten entführen, die es noch nie zuvor gesehen hat. Ich selber lernte nicht nur die traditionelle Fischerei auf Malta kennen, sondern auch, wie die Fischindustrie funktioniert, einschliesslich ihrer parallelen Schattenwirtschaften voll Schmuggel, Sabotage und Fischbetrug, wie sie im Film dargestellt wird. Ich war auch bestrebt, Wege zu finden, wie Luzzu in unsere heutige Zeit passt und die nostalgische Sicht auf die Fischerei im Mittelmeer infrage stellt.

Der Film ist fiktional und hat emotionale Szenen, vor allem das Dilemma und die Kämpfe der Figuren. Welche Filme sind Ihre Inspirationen?

Die Filme des italienischen Neorealismus waren prägend für meine Vorstellung von dem, was Kino leisten kann. Die Werke von De Sica, Visconti und Rossellini sind grundlegende Inspirationen. Ich bin besonders von diesen Filmen bewegt, die nicht nur einen künstlerischen Ausdruck bieten, sondern auch einen ethischen Ansatz, der sie über gewöhnliche Kinowerke hinaushebt. Sie geben Zeugnis ab vom Leben gewöhnlicher Menschen, durch den Einsatz von Laien und das Drehen an realen Schauplätzen. Diese Filme waren zeitgemäss, vital, konnten sowohl persönliche Reflexion bieten als auch an einer Art nationaler Abrechnung teilnehmen. Indem sie sich zu emotionalen Höhen aufschwingen, uns aber mit moralischen Urteilen verschonen, scheint es immer in der Hand des Publikums zu liegen, was mit den Helden des Neorealismus geschehen wird. Ich hoffe, dass wir in «Luzzu» etwas von der Elektrizität eingefangen haben, die in diesen Werken des neorealistischen Kanons zu spüren ist, und gleichzeitig eine moderne Energie im Filmemachen bieten.

Man könnte unseren Film als Fortsetzung der Gedankenlinie sehen, die Visconti in «La terra trema» begonnen hat. Viscontis Film, der vor 70 Jahren in einem Fischerdorf auf Sizilien gedreht wurde, das nur einen Steinwurf von Malta entfernt ist, zeigt auch Laien als Fischer. Die Grossartigkeit der traditionellen Fischerwelt erweist sich auch Jahrzehnte später noch als inspirierend, und es ist unheimlich zu sehen, wie Viscontis Film den Gegenwind vorwegnimmt, der den Fischerfamilien im Mittelmeer zu schaffen macht. Ich komme nicht umhin, zwischen Viscontis Hauptfischer und unserem Jesmark eine gewisse Ähnlichkeit zu erkennen.

Interview mit Alex Camilleri

Regie: Alex Camilleri, Produktion: 2021, Länge: 94 min, Verleih: trigon-film