Mami Wata

Voodoo-Legende als Gleichnis der Weltgeschichte: In einem afrikanischen Dorf verehren die Menschen die Göttin Mami Wata und suchen Rat bei Mama Efe, ihrer Vertreterin auf Erden. Weil an deren Kräften gezweifelt wird, sollen ihre Töchter diese Aufgabe weiterführen. Der Nigerianer C. J. Obasi und seine Kamerafrau Lilis Soares schufen mit «Mami Wata» ein ästhetisches und ethisches Meisterwerk voll Spiritualität und Grösse. Ab 21. September im Kino
Mami Wata

Mama Efe, Mami Watas Vermittlerin auf Erden

Im Dorf Iyi, einem vom Ozean umgebenen und von der Welt abgeschnittenen Ort, leben die Menschen von Landwirtschaft und Fischfang. Sie tragen prächtige weisse Körperbemalung und ehren Mami Wata, eine Wassergöttin des Voodoo-Kults. Diese ist herrisch und mächtig, eine strahlende Schönheit und bringt auch Reichtum und Glück, weshalb die Menschen ihr Erspartes Mami Efe anvertrauen, welche die Gottheit auf Erden vertritt. Als im Dorf ein Junge stirbt, kommen Zweifel auf, werden Kraft und Existenz der Göttin infrage gestellt, was den Appetit von Rebellen anregt, ins Land einzufallen. Eine der Töchter, Zinwe oder Prisca, soll in Efes Fussstapfen treten, was zu Spannungen führt, denn für die eine wie die andere ist Tradition nicht sakrosankt.

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Zinwe, Prisca, Mama Efe (v. l.)

Aus «Director’s Statement»

Ich bin in einer grossen Familie aufgewachsen, in der sich stets Frauen um mich gekümmert haben: meine Mutter, meine beiden älteren Schwestern, Cousinen, Tanten und andere. Ich hatte stets eine hohe Meinung und grossen Respekt vor Frauen. So geprägt, war mir über lange Zeit nicht klar, dass dies offenbar nicht der Norm entsprach. Erst als ich erwachsen wurde und meine Liebe zum Film wuchs, wurde mir allmählich bewusst, dass die Frauen, wie ich sie kannte, die führenden Persönlichkeiten waren und Haushalte, Büros, Unternehmen und Regierungen leiteten, in den Filmen kaum sichtbar waren. Auch konnte ich mich nie mit den Darstellungen afrikanischer Frauen identifizieren, die ich im Fernsehen oder in den Filmen sah. Sie erschienen als hypersexualisierte oder karikierte Figuren. Dieser Konflikt hat mich dazu gebracht, den Film «Mami Wata» zu realisieren. Um Frauen mit all ihren Stärken und Schwächen, ihrem Intellekt und ihren Fähigkeiten zu zeigen, schuf ich Zinwe, Prisca und Mama Efe und stellte sie ins Zentrum meiner Geschichte. Frauen, wie ich sie kenne, echte afrikanische Frauen.

Nigeria ist ein korruptes Land, geprägt von jahrzehntelangem Bürgerkrieg, ethnischem Fanatismus, Terrorismus und Plünderungen durch die Regierungen. Ein Land, welches das Christentum und den Islam vollständig angenommen hat. Also hat man nicht nur ein Land, in dem Massen von Armen leben, sondern auch eines, das entlang ethnischer Zugehörigkeiten, sozialer Schichten und Religionen gespalten ist. Das ist in gewisser Weise einzigartig, denn obwohl Nigeria über ein reiches kulturelles Erbe und eine traditionelle Spiritualität in seinen rund 370 ethnischen Gruppen und 500 Sprachen verfügt, sind die Glaubensvorstellungen durch das Christentum und den Islam weitgehend ausgehöhlt, und die alten Bräuche gelten heute als böse und dämonisch. Ausserdem herrschen trotz der Verbreitung der Religion im ganzen Land weiterhin Korruption und Armut. Ich habe mich also gefragt: Waren die alten Wege besser? Ich möchte dem Publikum diese Frage stellen und durch die Geschichte des Dorfes Iyi zeigen, dass ein Volk aus eigener Kraft, ohne fremde Hilfe, dynamisch, wohlhabend, schön und friedlich sein kann, wie es viele alte Zivilisationen auf der Welt über Tausende von Jahren bewiesen haben. Sobald dieses Dorf jedoch vergisst, was es wirklich ist, stürzt es in tiefe Dunkelheit. Dies kann auch Denkanstoss oder Motivation werden, sich damit zu befassen, wer man wirklich ist, und einen Weg zurück zu Mutter Natur zu finden, so wie Zinwe im Film ihren Weg zurück zu Mami Wata findet.

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Rebellen fallen ins Dorf ein

Ein filmisches Meisterwerk in Schwarz und Weiss

Der Star dieses Films ist nicht Mama Efe, sondern die ausserordentliche, faszinierende Form dieser Voodoo-Geschichte aus der westafrikanischen Folklore, die der Regisseur C. J. Obasi und die Kamerafrau Lili Soares erzählen! Sie überfällt uns mit ornamentalen, geometrischen, schwarz-weiss bemalten Kostümen und Körpern, verziert mit kunstvollen Frisuren, Make-ups und Schmuck. Die Tableaux fliessen in- und auseinander, auf uns zu und von weg, eingebunden in Gespräche, Musik und Stille. Sie hüllen uns ein in einen Hauch von Magie.

Der Film ist erfüllt von Spiritualität, kraftvoll und ausschweifend wie ein antikes Theater, an Bergmans «Jungfrauenquelle» und Kurosawas «Rashomon» erinnernd, in seiner Tiefe und Breite leidenschaftlich die sozialen und politischen Konflikte darstellend: den Kampf zwischen Matriarchat und Patriarchat und zwischen Tradition und Moderne.

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Zinwe, die leibliche Tochter

Matriarchat gegen Patriarchat

«Mami Wata» beschreibt die lange Geschichte der weiblichen, eigentlich der göttlichen Autorität der Wassergöttin Mami Wata, deren Stellvertreterin Mama Efe und deren Töchter Zinwe und Prisca. Sie tragen ihre Verantwortung unwidersprochen, bis durch den Tod eines Kindes Zweifel an ihrer Autorität sich melden, zu erst bei Zinwe, dann auch bei Prisca. Anfänglich ist ihre Auflehnung noch gläubig, helfend, matriarchal, wird aber immer aggressiver, destruktiver, patriarchal, bis fremde Männer den Zwiespalt im Dorf erkennen und das Dorf einnehmen. Die Auseinandersetzung eskaliert, bis sie schliesslich hinüberführt in das andere grosse Thema des Films: Tradition oder Moderne, Bewahren alter Werte oder Übernahme neuer.

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Die adoptierte Tochter Prisca

Tradition gegen Fortschritt

Der schwindende Glaube an die traditionellen Werte führt bei der Bevölkerung zu Ablehnung und schliesslich zum Aufstand. Denn auch sie verlangt Elektrizität, Krankenhäuser und Schulen, die ihr von den immer aggressiveren Männern versprochen werden, hoffend auf den Vorteil einer höheren Überlebensrate, selbst auf Kosten schwindender Traditionen. Bald aber wird das vom Dorf gesammelte und gespendeten Geld nur noch für Waffen gebraucht. Jetzt entscheiden diese, was richtig und was falsch ist. Es beginnt das Paradigma des Krieges, Probleme mit Töten zu lösen.

C. J. Obasi liefert uns im zweiten Teil des Films – neben seiner Betrachtung über Matriarchat und Patriarchat – eine dramatische und poetische Fabel über Tradition und Moderne, künstlerisch das vorwegnehmend, was wir heute im Niger erleben: Korruption, Rebellion, Bürgerkrieg und Mitwirken am Aufbau einer neuen internationalen Geopolitik, welche nichts Gutes erahnen lässt.

«Es ist an der Zeit, unser Narrativ selbst zu schreiben, eigene Visionen zu finden und zu realisieren», meint der Regisseur und tönt damit an, dass dies alles nicht nur für Niger und Afrika, sondern für die ganze Welt, für die Weltgeschichte gilt. Das ist wohl die Botschaft, die uns «Mami Wata», gleichnishaft und prophetisch, mit Verzweiflung und Lebenslust in einem überwältigenden Schauspiel bietet.

Regie: C. J. Obasi, Produktion: 2023, Länge: 107 min, Verleih: trigon-film