Mademoiselle Chambon

Eine ehrliche Liebesgeschichte

Jean ist eine aufrechte Person, ein guter Handwerker, ein sorgender Vater und der anständige Ehemann von Anne Marie. Sein ruhiger Alltag zwischen Familie und Arbeit gerät völlig durcheinander, als er eines Tages Mademoiselle Chambon, der Lehrerin seines Sohnes, begegnet. Der eher wortkarge Mensch wird in eine ihm vollkommen unbekannte Welt gerissen. Gefühle werden wach, die ihm bislang unbekannt waren.

Zu Beginn schildert der Film, akustisch bereits im Vorspann, die Strenge der Handarbeit von Jean und führt hinein in sein recht harmonisches Familienleben. Beide Eltern kümmern sich Anteil nehmend und liebend um ihren Sohn Jérémy, helfen ihm bei den Hausaufgaben und stossen dabei, wie viele andere Eltern, an ihre Grenzen, vorwegnehmend ihre persönlichen Grenzen als Erwachsene in ihrer Partnerschaft und Liebe.

Bei einem Schulbesuch lädt Véronique Chambon Jean in ihre Klasse ein, um den Kindern von seinem Beruf zu erzählen. Sein gelungener Einsatz ermutigt sie, ihn zu bitten, bei ihr ein Fenster zu reparieren, worauf er sie bittet, ihm ein Stück auf der Violine vorzuspielen. Diese Musik eröffnet ihm eine neue Welt, durch ihre Nähe entstehen Sympathie, Sinnlichkeit, Liebe, Leidenschaft. Es kommt zur Berührung, zur Umarmung, zum Kuss.

Vor dem Hintergrund seines Familienlebens entwickelt sich die Beziehung von Jean. Anne Marie teilt ihm mit, dass sie schwanger sei, spürt indes, dass er seelisch abwesend ist. Er wird hin- und hergerissen zwischen seiner bewährten Partnerschaft und der «amour fou» mit Véronique. Sie sehen sich immer häufiger, bis er sie einlädt, am Geburtstagsfest seines Vaters aufzuspielen: als Verliebte und Rivalin zugleich.

Jeans innerer Zwiespalt äussert sich in Wutausbrüchen bei Anne Marie und bei Kollegen. Véronique lehnt das Angebot der Schulleiterin, am Ort bleiben zu können, ab und entscheidet sich, zurück nach Paris zu gehen. Er will mit ihr dorthin verreist. Sie packt ihre Sachen und wartet auf dem Bahnhof. Er packt den Koffer, bricht auf zum Bahnhof, doch dort bleibt er stehen, bis sie den Zug bestiegen hat. Sie fährt weg, ist wieder allein.

Jean kehrt zurück zu Anne Marie und Jérémy, im Schlussbild, das sich mehr und mehr von ihnen entfernt, sitzen die beiden am Tisch, er im Profil, vor sich hin blickend, sie frontal zu uns. Gesprochen wird wahrscheinlich nicht. Ist die neue Beziehung nun zu Ende? Geht die alte Beziehung weiter? Wie bisher oder anders? Gibt es darüber eine Auseinandersetzung? Wird sie verschwiegen? Wie leben die beiden, die drei weiter?

Der Film «Mademoiselle Chambon» von Stéphane Brizé ist ein Werk von hoher künstlerischer Qualität, welches die  Menschen als liebende und liebesbedürftige Wesen zeigt und den Zuschauenden Raum gibt zum eigenen Mittun.

Vincent Lindon verkörpert perfekt einen verschlossenen, eher schüchternen Jean, Sandrine Kiberlain, im richtigen Leben Vincents Ex-Frau, überzeugt mit ihrem zurückhaltenden, höchst differenzierten Spiel als geheimnisvolle Mademoiselle Chambon, die sich einem Menschen öffnet, sich ihm hingibt und auf seinen Rückzug auf die Partnerin reagiert, grossartig gespielt oder besser gelebt, wofür sie mit dem César 2010 als «beste Schauspielerin» ausgezeichnet wurde.

Nach dem letzten Film «Je ne suis pas là pour être aimé», in welchem Stéphane Brizé durch den Liebestanz Tangos zwei Menschen zusammenführte, präsentiert «Mademoiselle Chambon» eine weitere subtile Geschichte des Begehrens, dessen Szenario, nach dem gleichnamigen Roman von Eric Holder, bei der César-Verleihung als «bestes adaptiertes Drehbuch» prämiert wurde.

Grossartig auch die Bilder von Antoine Heberle, welche die realen Lebenswelten, etwa jene des Maurers und jene der Lehrerin, eindrücklich zeichnen, ebenso Landschaften und Strassen, die Gefühle abbilden und auslösen. Grossartig von Musik und Geräuschen untermalt und überhöht. Sie führen und erklären, beispielsweise dort, wo das Lied, das Véronique im Zimmer für Jean spielt, den Wegfahrenden im Off begleitet.

Doch nicht die einzelnen Elemente sind das Wichtigste, sondern die Totalität, die Haltung dahinter: Keiner der beiden Liebenden ist schuldig, sie beide sind Liebende und Liebe Suchende und leiden damit in einer Welt der Regeln, Normen, Grenzen und Gebote. Ihr utopischer Ausbruch erinnert mich an den Satz des Augustinus: «Liebe und tue, was du willst.»

Und als seltenes Privileg zeigt der Film, was er zeigen will, in einer fairen, nicht wertenden, in einer kaum manipulierenden Art und Weise. Er lässt den Zuschauerinnen und Zuschauern Freiheit, mitzugehen, Stellung zu beziehen, Anteil zu nehmen. Und dafür braucht der Film Zeit, verwendet er lange Einstellungen, hat er genügend Ruhephasen. Erst diese erlauben es uns, uns selbst einzubringen. Ohne dieses, unser eigenes Tun gibt es keine Kommunikation mit einem Film. In allem, was wir sehen, hören und beurteilen, bringen wir uns ein – einige merken das, andere nicht.

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