Malaria
Hanna, eine der vielen jungen iranischen Frauen
Am Anfang liegt ein Smartphone in den Händen eines Polizisten. Er trägt weisse Handschuhe, bekommt Anweisungen von seinem Kollegen und versucht, das Gerät, dessen Akku leer ist, wieder in Betrieb zu setzen. Das Handy war zusammen mit einem roten Rucksack gefunden worden. Jetzt stöbern die Polizisten in den Videos, die sie darauf finden. Über das erste, das einer anklickt, steigt der Film in die Geschichte ein, die formal aus vielen Rückblenden und Fragmenten einer verwirrlichen, gelegentlich etwas fragwürdigen, nicht immer überzeugenden Flucht besteht: fiebrig gedreht und brüchig montiert. Hanna, eine junge, hübsche Frau war die Besitzerin des gefundenen Handys.
Murry und Hanna auf der Flucht
In den Strudel hinein- und wieder hinausgerissen
Der Filmemacher Parviz Shahbazi konstruiert die Geschichte seines sechsten, des ersten in der Schweiz gezeigten Films aus Aufnahmen mit dem Smartphone und zusätzlichen mit der Filmkamera. Zusammen mit ihrem Freund Murry ist Hanna aus der Provinz abgehauen und hat sich nach Teheran durchgeschlagen. Nach Hause meldet sie, sie sei entführt worden. Diese etwas absurde, abwegige Nachricht wird später durch Aufnahmen ihres Bruders und Vaters sowie die restriktiven und frauenfeindlichen Gesetze ansatzweise verständlich. Im Gegensatz zu Murry kann Hanna beispielsweise kein Hotelzimmer bekommen, ohne dass der Vater seine Zustimmung gibt. Der Ehrlichkeit halber muss gesagt werden, dass es noch keine zwanzig Jahre her sind, dass dies auch bei uns genau so war. Der Zufall bringt die beiden Ausreisser zu einem Kleintransporter, der vom Strassenmusiker Azi, gespielt von Azarakhsh Farahani von der Band «Malaria», gelenkt wird. Dieser bemüht sich mit grosser Anteilnahme, dem jungen Paar zu helfen. Immer stärker gerät er deshalb selbst in den Strudel der Suche nach der vermeintlich entführten Tochter und wird schliesslich als Kidnapper verhaftet.
Parviz Shahbazi, der 1962 in Teheran geboren wurde, hat das Buch geschrieben und die Geschichte lebensnah inszeniert. Mit diesen Fragmenten taucht er ein ins Leben von Jugendlichen im aktuellen Iran, wo die rückwärtsgewandte Politik und Moral jeder Veränderung im Wege steht, aber gleichwohl nicht verhindern kann, dass auf den Strassen und in den Häusern, wo die Abtrünnigen und Aufmüpfigen sich aufhalten, ein Sturm spontanen, hedonistischen, zum Teil naiven, pubertierenden Protestes losbricht – anders als bei der «Jasmin Revolution» in Tunesien oder Ägypten, anders auch als bei den 68er-Revolten in Berkeley, Paris, Berlin oder Zürich.
Hanna und Murry im Aufbruch
Parviz Shahbazi zu seinem Spielfilm «Malaria»
«Ich glaube, dass die iranische Gesellschaft noch nie ein stärkeres Bedürfnis nach Freude hatte als heute. Die Sequenz des Strassenkonzerts haben wir im Herzen Teherans gefilmt. Passanten standen stundenlang rum, um sich die Musik anzuhören und schenkten dem Filmteam überhaupt keine Beachtung. Wann immer es die Handlung zuliess, brachte ich Szenen dieser Volksfreude in den Film ein sowie die Nacht, in welcher das Atomabkommen zwischen dem Iran und der 5+1-Gruppe endlich unterschrieben wurde. Es hätte mir gefallen, wenn meine Protagonisten ebenfalls fröhlich gewesen wären, doch die Widersprüche einer Gesellschaft, die dauernd zwischen Modernität und Tradition hin- und hergerissen ist, machen so etwas schwierig.»
Murry trägt ein T-Shirt mit der Aufschrift «Thinking ... Please wait»: wohl auch beiläufig ein Zeichen für den gesellschaftlichen Umbruch der iranischen Jugend. Als Kontrast dazu die SMS von Hannas Vater, der die Tochter mit aller Macht sucht und zurückhaben will: «Es gibt nur einen Weg, wie du nach Hause zurückkommen kannst, und das ist in deinem toten Körper.» – Heute, bloss drei Jahr danach, sind diese Freude, dieser Aufbruch durch den Präsidenten des mächtigsten Landes der Erde, fahrlässig und folgenschwer zugleich handelnd, weggewischt. Der Film liefert uns eine historische Innenansicht des damaligen Aufbruchs, von dem die offiziellen Medien eher wenig berichtet haben.
Das Paar vor einem offenen Schluss
Die grosse Sehnsucht nach Freude
Hanna liebt das Leben, lebt aus, was sie ausleben kann, auch auf Kosten anderer, schmeisst das zwingend obligatorische Kopftuch weg, wenn sie mit Murry draussen in der Natur ist, allerdings nicht im Bild, denn das würde im Iran, wo Frauen in Filmen selbst in der Küche oder im Bad eine Kopfbedeckung tragen müssen, bestraft. Der Filmemacher wechselt über die ganze Filmlänge immer wieder die Erzählperspektive und mischt längere Einstellungen, die die Handlung zeigen, mit kürzeren, die die Befindlichkeit dokumentieren.
Wir sind durch die Form, die der Film gewählt hat, mittendrin im landesweiten Sog nach Freude, aber auch eingebunden in die Widersprüche, die den iranischen Alltag prägen, mit denen die Gesellschaft dort leben muss, aus denen es kaum ein Entrinnen gibt – oder vielleicht doch irgendeinmal in der Zukunft, obwohl die aktuelle weltpolitische Lage daran zweifeln lässt.
Regie: Parviz Shahbazi, Produktion: 2016, Länge: 90 min, Verleih: trigon-film