Mare

Vom Charme des Alltäglichen: Andrea Štaka erzählt in «Mare» von einer Frau und den Turbulenzen ihrer Gefühle, zwischen Sehnsucht, Erfüllung und Enttäuschung. Mit einer grossartigen Marija Škaričić als Mare, die berührt und sinnieren lässt. - Ab 12. Juni als Neustart im Kino, nach der Corona-Kino-Schliessung im März. Im Vorprogramm mit dem Kurzfilm «My mom, my son and me» von Andrea Štaka.
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Marija Škaričić in der Rolle von Mara

Geflogen ist Mare noch nie, obwohl sie mit ihrem Mann Duro und den drei Kindern im Teenageralter direkt neben dem Flughafen von Dubrovnik lebt. Sie liebt ihre Familie, auch wenn sie ihr manchmal auf die Nerven geht. Sie sehnt sich nach einem Job und mehr Unabhängigkeit. Ihr Mann ist ihre Jugendliebe, doch als sie eines Tages einem Jüngeren begegnet, überschreitet sie eine Grenze, und dies konsequent. Gleichzeitig verweist der Film auf Themen wie Paarbeziehung, Mutterrolle, Frauenidentität, Sexualität und Alltag.

Der neue Spielfilm der Schweizer Regisseurin Andrea Štaka, steht ihrem Erfolgsfilm «Das Fräulein» in keiner Weise nach, sondern übertrifft ihn noch im komplexen Ausleuchten menschlicher Beziehungen, der Vielfalt der Hintergründe und der Umsetzung in eine ästhetische Form. – Das nachfolgende Interview mit der Regisseurin ist, in meinen Augen, die beste Einführung in den Film.

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Duro, Maras Ehemann, gespielt von Goran Navojec

Aus einem Interview mit Andrea Štaka

Wie würdest du die Protagonistin des Films beschreiben? Mare ist eine mutige Heldin, die ihre Bedürfnisse kennt und ernst nimmt. Sie geht in ihrer Rolle als Frau und Mutter einen Schritt weiter und emanzipiert sich. Es handelt sich um das Bedürfnis, sich selbst zu sein innerhalb der heutigen Rollenbilder der Frau und Mutter. Sie liebt ihre Familie, gleichzeitig spürt sie, dass sich die Beziehung zu ihren Kindern und ihrem Mann verändert. Mir liegt die Auseinandersetzung mit der Bedeutung der Familie heute am Herzen. Ich denke, dass das Konzept der Kleinfamilie stark am Verändern und Aufbrechen ist. Es ist Zeit, einen offenen Dialog darüber zu führen, sich Fragen zu stellen, was neue Möglichkeiten der Familienkonstellation sind, und diese zu leben. Mare macht das auf ihre Art.

Wie bist Du auf die Idee der Geschichte gekommen? Welcher Prozess hat zu diesem Film geführt? Es reizte mich, einen Film über den Charme des Alltäglichen zu drehen, mit einer einfachen Storyline und Raum für Kreatives: viel Proben, eine kleine Crew, eine intuitive Arbeitsweise. «Mare» ist ein persönlicher Film. Ich erzähle über eine Lebensphase, die ich kenne: Partnerschaft, das Kind wird grösser und unabhängiger, es taucht die Frage auf, wer man selbst ist. Bricht man aus? Warum erscheint die Familie mit kleinen Kindern idyllischer? Wer sind diese Menschen eigentlich? Liebt mein Partner mich – und ich ihn? Wie unabhängig bin ich? Als Mütter stellen wir uns Fragen über Familie, Frausein, Sexualität, unsere Träume und Wünsche. Die Geschichte ist stark inspiriert vom Ort selbst. Meine Cousine lebt im Haus, in dem wir drehten, mit ihren vier Kindern und ihrem Mann.


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Der junge Piotr, gespielt von Mateusz Kościukiewicz, mit Mara

Die Hauptdarstellerinnen waren schon in «Das Fräulein» und «Cure – The Life of Another». Wie hat sich deine Zusammenarbeit mit ihnen in «Mare» weiterentwickelt? Ich habe die Rolle von Mare für Marija Škaričić geschrieben. Sie ist eine wunderbare Schauspielerin, die ich unbedingt wieder auf der Grossleinwand sehen wollte. Ich mag ihre Intuition, ihre Kraft. In «Mare» steckt ein Teil von mir, ein Teil von Marija und ein Teil von meiner Cousine. Das war nicht immer leicht zu vereinen. Wir haben lange geprobt und uns auf eine gemeinsame kreative Reise eingelassen. Marija musste für die Rolle viel von sich preisgeben. «Mare» erzählt zwischen den Zeilen: Wir befinden uns im ambivalenten Raum von Beziehungen und Intimität. Sie liebt ihren Mann und begehrt auch einen anderen, sie liebt ihre Kinder, gleichzeitig sind sie ihr manchmal fremd. All das zu interpretieren, gerade diese Grauzonen, war eine emotionale Gratwanderung, anders als bei «Das Fräulein». Mirjana Karanović, Maras Mutter, wollte ich unbedingt wieder im Film haben. Ich liebe ihre Kreativität, ihr Wesen, ihr Gesicht. Das Cast ist eine persönliche Mischung aus bekannten kroatischen und serbischen Schauspielern und Laien. Mares drei Kinder werden von meiner Nichte und meinen beiden Neffen gespielt. Marija Škaričić und Goran Navojec, der Mares Ehemann Duro spielt, sind auch im realen Leben ein Paar.

In deinen Filmen spielen Frauen die Hauptrollen. Weshalb erzählst du gerne Frauengeschichten? Weil ich eine Frau bin! Für mich fühlt es sich natürlich an, über unsere Freuden und Sorgen, unsere Gefühlswelt, unsere Kraft und Zweifel zu erzählen. Ich kreiere Frauenfiguren, die sich real anfühlen, die kompliziert, begehrenswert, verletzlich und lustig sind. Es ist mir wichtig, ehrlich zu sein, wenn ich arbeite, und das bedeutet, auch meine Schwächen zu zeigen, anstatt sie zu ignorieren. Bei «Mare» habe ich mich mit der Mutterrolle auseinandergesetzt. Muttersein wird vielfach auf das Bild der glücklichen, erfüllten, gebenden Frau reduziert und ist immer noch omnipräsent in unserer Gesellschaft, ob in Zeitschriften, im Park und vor allem in unseren Köpfen. Der Film zeigt zwei Pole von Mare, es sind zwei natürliche Seiten jedes Menschen: Familie ist «alles», aber man selbst ist auch «alles».


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Die Mutter von Mara, gespielt von Mirjana Karanović

Ein ganzes Leben eingefangen

Selten weisen Bilder und Töne eines Films so intensiv auf verborgene Bedeutungen wie bei «Mare». Alle Szenen zusammen erst zeichnen das intime und dennoch allgemeingültige Porträt von Mare und ihrer Familie. Ihr Fühlen und Wissen verweist auf Hoffen oder Fürchten, Berühren oder Ablehnen, Erwarten oder Sehnen, Schweigen oder Verdrängen, Vertrauen oder Akzeptieren, Ausleben oder Geniessen, Durchhalten oder Verzweifeln, Erdulden oder Ausbrechen, Anteilnehmen oder Verstehen, im Moment leben oder die Zukunft planen – Befindlichkeiten, die wir wohl alle kennen.

«Mare» erinnert mich an folgenden Satz des ungarischen Filmtheoretiker Béla Balázs: «Der Film kennt kein rein Äusserliches und keine leere Dekorativität. Eben weil im Film alles Innere an einem Äusseren zu erkennen ist, darum ist auch an allem Äusseren ein Inneres zu erkennen.» Und dies hat Andrea Štaka in einer wunderbaren Filmsprache in Szene gesetzt: mit ihrem klugen Drehbuch und ihrer professionellen Regie, den authentisch spielenden Darstellerinnen und Darstellern, vorab Marija Škaričić als Mare, eingebettet in ein Team von Laien und Professionellen, mit Bildern von spontaner Schönheit von Erol Zubčević und der anregenden Montage von Redžinald Šimek und Thomas Imbach. «Mare» ist ein persönlicher und gleichzeitig allgemeingültiger Film! Andrea Štaka zeigt uns eine menschliche Situation, eine eindrückliche Conditio humana.

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Die Drehbuchautorin und Regisseurin

Andrea Štaka, die Regisseurin von «Mare»

Andrea Štaka, 1973 in Luzern geboren, studierte Film an der Zürcher Hochschule der Künste. Ihre Filme «Hotel Belgrad» (1998) und «Yugodivas» (2000) brachten ihr Anerkennung an internationalen Festivals wie Locarno und Sundance Film Festival und wurden mehrfach ausgezeichnet. «Das Fräulein» (2006), ihr erster langer Kinospielfilm, gewann den Goldenen Leoparden in Locarno, das Herz in Sarajevo und den Schweizer Filmpreis für das Beste Drehbuch. 2007 gründete Štaka mit Thomas Imbach Okofilm Productions. Ihr zweiter Spielfilm «Cure» (2014) gewann einen Max Ophüls Preis. «Mare» (2020) hat gegenwärtig an den Internationalen Filmfestspielen Berlin Weltpremiere. Andrea Štaka ist Mitglied der europäischen Filmakademie.

Regie: Andrea Štaka, Produktion: 2020, Länge: 84 min, Verleih: Frenetic