Matar a Jesús

Vom A und O der Gewalt: Die kolumbianische Regisseurin Laura Mora verarbeitete die hautnah erlebte Ermordung ihres Vaters im Spielfilm «Matar a Jesús» zu einem eindrücklichen und komplexen Gleichnis über die Gewalt.
Matar a Jesús

Jesús erklärt Paula den Umgang mit dem Revolver 

Die Kunststudentin Paula erlebt aus nächster Nähe, wie ihr Vater, ein Hochschullehrer, von zwei vorbeirasenden Motorradfahrern erschossen wird. Einen der beiden erkennt sie als den Täter. Polizei und Staatsanwaltschaft ermitteln, wie üblich im Land, erfolglos. Während eines Discobesuchs trifft Paula jedoch Jesús, den Mörder. In bedächtigen Schritten, zwischen Rache, Angst, Faszination, Mitgefühl, Verstehen und Sympathie pendelnd, nähert sich die Frau dem Mann. Dieser Weg führt sie aus ihrem bürgerlichen Elternhaus ins Armenviertel der kolumbianischen Grossstadt Medellín. Der Spielfilm «Matar a Jesús» (Töte Jesús), von Laura Mora, in sechs Wochen an den Originalschauplätzen mit Laien realisiert, ist das Ergebnis ihrer Trauerarbeit.

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Vater José Maria und Tochter Paula

Psychogramme zweier Welten

Was ein kitschiger Plot für eine Seifenoper oder ein Gewalt verherrlichender Selbstjustiz-Thriller hätte werden können, wird bei Laura Mora eine sorgfältige Annäherung zweier total verschiedener Lebenswelten: Einerseits die Oberschicht mit der 22-jährige Kunststudentin Paula, dem Universitätsprofessors Dr. José Maria Rios, dem Bruder Tiago und der Mutter. Anderseits der im Armenviertel lebende 24-jährige Jesús, der Mörder von Paulas Vater, seine Mutter Amparo und deren Kinder in der kolumbianischen Millionenmetropole, wo Drogenbosse Kleinkriminelle für ihre Drecksarbeiten engagieren.

«Matar a Jesús» («Killing Jesús») erweist sich fürs Erste als Abbild einer inneren Bewegung: im Zueinander und Auseinander der zwei Jugendlichen, die täglich hautnahe Gewalt erleben. Der von seinen Studenten geschätzte Professor referierte Ideen des Philosophen Michel Foucault, dass Rebellion Sinn machen könne und dass der Einzelne alles hinterfragen müsse. Solche Aussagen in einem Land voll Gewalt und Korruption waren wohl der Auslöser des Mordes, von denen es in Medellín täglich fünf bis zehn geben soll. Schicht um Schicht des Psychogramms von Paula und Jesús werden entblättert und öffnen uns die Augen und die Herzen.

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Ein Ort, wo Paula und Jesús sich näherkommen

Gewalt: Alpha und Omega des Lebens

Untersucht wird der Mordfall vom zuständigen Staatsanwalt. Dieser rät der Familie, die Stadt zu verlassen, da niemand wisse, wer hinter dem Mord stecke; wenn sie jedoch bleiben wollen, sollen sie sich möglichst unauffällig verhalten. «Ich habe das Gesicht des Mörders gesehen, er trug eine blaue Mütze, ist jung, dunkelhäutig und sass auf einem schwarzen Motorrad», insistiert Paula. Sie möchte wissen, was mit ihrem Vater passiert ist. «Wir finden das heraus», die Antwort des Staates. Auch die Mutter gibt zu, der Vater sei oft bedroht worden, denn er lehrte Dinge, die viele Leute im Land nicht gern hören. Was immer intensiver und widersprüchlicher wird zwischen den beiden jungen Menschen, bildet den eigentlichen Kern des Films: Paula muss, will, kann die Ermordung ihres Vaters rächen, sie kennt den Mörder, stösst auf stets neue Indizien, ist dem Täter auf der Spur. Dabei kommen sich die beiden näher, beginnen sich gegenseitig zu verstehen, es entsteht Sympathie, ja Freundschaft. Doch sobald ihr Entschluss, den Vater zu rächen, möglich ist, wird sie unsicher. Verstehen und Wut, Sympathie und Misstrauen kämpfen gegeneinander. Paula erhält von Jesús sogar Schiessunterricht, fühlt sie danach aber unwohl.

Als Paula auf der Suche nach Geld für eine Waffe niedergeschlagen wird, pflegt sie Jesús. Und als dieser Paula bittet, ihn zu erschiessen, um diesem menschenunwürdigen Leben zu entkommen, zögert sie, kann es nicht tun, sondern pflegt ihn, da er selbst überfallen worden ist. Die Szene mit dem verwundeten Mann auf dem Schoss der leidenden Frau erinnert an eine Pietà der christlichen Kunst. Jetzt sagt sie ihm auch erstmals, dass sie ihn als Mörder erkannt habe, und er sagt ihr, dass er stets an sie geglaubt habe, sie werde ihm helfen. Paula nimmt den Revolver aus dem Rucksack von Jesús, flieht damit zu der Stelle, wo sie schon mal mit ihm war, blickt über die Stadt und wirft den Revolver weg – womit der Film wohl Fragen stellt, die über die Absurdität der Gewalt hinausweisen.

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Muss ich, will ich, kann ich Jesús erschiessen?

Anmerkungen der Regisseurin Laura Mora

«Matar a Jesús» ist ein soziales Drama, das anhand des Lebens zweier junger Menschen, denen auf brutale Weise Gewalt widerfahren ist, das Porträt einer konfliktbeladenen Gesellschaft zeichnet. Angesichts meiner naturalistischen Herangehensweise, bestand die grösste Herausforderung für mich, Gewalt in kleinen Details zum Ausdruck zu bringen, um zu zeigen, dass Gewalt auch etwas Intimes ist, und wie sehr unsere ganze Gesellschaft davon durchdrungen ist. Dabei entdeckte ich, dass Gewalt zu unserer Identität zu gehören scheint, und dass der Widerstand dagegen fast als Verrat an unserer Gesellschaft betrachtet werden kann. Schliesslich scheint es, als müsse man Kolumbiens Geschichte der Gewalt als nicht enden wollenden Racheakt beschreiben.

Der Film ist ein fortwährender Dialog zwischen unserer Protagonistin Paula und der Stadt, die sich immer zwischen Gewalt und Moralverstössen bewegt. Die Figur von Jesús ist nichts weniger als die Verkörperung dieser ganzen Tragödie: Wie kann eine Gesellschaft, die so katholisch ist, zugleich so gewalttätig sein? Wir folgen Paula auf ihrer Reise, auf der sie wiederum Jesús folgt, als verberge sich hinter ihrem Plan, ihn zu töten, ihre eigene Todessehnsucht. Während dieser ganzen Reise sollten wir nie vergessen, wie jung diese Menschen sind: ein jugendliches Opfer und ein jugendlicher Täter. Sie spiegeln ein gescheitertes System wider, in dem ihnen, jeweils auf ihre eigene Weise, Gerechtigkeit verweigert wurde. Viel zu früh in ihrem Leben wurden sie mit der Unausweichlichkeit von Tod und Tragödie konfrontiert. Während des Drehens war ich stets besorgt, Momente der Wahrheit zu finden. Ich beschloss, mit Laiendarstellern zu arbeiten, die die Szenen mit ihren eigenen Erfahrungen, ihrer eigenen Sprache und ihrer eigenen Beziehung zu ihrer Stadt anreichern, deren Gewalt so natürlich erscheint, dass die Schönheit des Lebens selbst die Leinwand erfüllt.

«Matar a Jesús» ist eine Geschichte über gegenseitiges Verstehen. Wir erleben die Verwandlung einer mit dem Tod konfrontierten Tochter in ein menschliches Wesen, das sich für sein eigenes und vor allem für das Leben anderer entscheidet. Sie versucht, den Standpunkt des anderen einzunehmen, auch wenn dieser von ihrer Mitmenschlichkeit weit entfernt ist; auch wenn ihr die Wahrheit, die sie als Opfer einfordert, für immer verschlossen bleiben wird. Mit ihrer Haltung versucht Paula, den unendlichen Kreislauf der Gewalt zu durchbrechen. Sie wird zu einem Symbol für den Widerstand.

Trailer

Regie: Laura Mora, Produktion: 2017, Länge: 99 min, Verleih Xenix Film