Médecin de Campagne

Leiden und Freuden eines Landarztes: Der Spielfilm «Médecin de Campagne» von Thomas Lilti mit François Cluzet und Marianne Denicourt ist ein feinsinniges Doppelporträt, eine engagierte Sozialkritik, ein Symbol des Arzt-Seins als Existenzform.
Médecin de Campagne

Dr. Jean-Pierre Werner

Dr. Jean-Pierre Werner (François Cluzet) ist seit über 30 Jahren Landarzt und überaus beliebt. Stets hat er ein offenes Ohr für die Nöte und Sorgen seiner Patienten. Doch dann stellt sich heraus, dass es mit seiner eigenen Gesundheit nicht zum Besten steht. Ihm wird eine Vertretung geschickt. Doch diese kommt schneller als ihm lieb ist in Gestalt der attraktiven und selbstbewussten Dr. Nathalie Delezia (Marianne Denicourt). Jean-Pierre, der sich für ziemlich unersetzlich hält, ist nicht bereit, sie spontan als Assistentin an seiner Seite zu akzeptieren.

Von Thomas Lilti, *1976, kompetent und mit einem geradezu dokumentarischen Approach, diskret und dennoch berührend inszeniert und von François Cluzet, Marianne Denicourt und einer Gruppe von Laiendarstellern und -darstellerinnen authentisch gespielt. «Médecin de Campagne» ist ein subtiles und differenziertes Doppelporträt zweier Ärzte; eine kluge, auf profunder Kenntnis der sozialmedizinischen Situation fussende politische Kritik; in der Darstellung des Landarztes ein eindrückliches allgemeinmenschliches Symbol für ein anteilnehmendes und helfendes Mensch-Sein.

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Der Landarzt und seine Assistentin

Von Dr. Jean-Pierre Werner zu Dr. Bernard Rieux

Ärzte, die Götter in Weiss, gibt es im Fernsehen, im Kino und in Boulevardblättern zuhauf. Diese Geschichten eignen sich vorzüglich als Projektionsfläche für unsere Sorgen, Nöte und Ängste, bieten sich zur Flucht aus dem Alltagsleben an. Was Thomas Lilti, der selber Arzt war, bevor er Filmemacher wurde, uns mit «Médecin de Campagne» vorlegt, ist das Gegenteil. Die Figur des Landarztes zeichnet sich durch eine herausfordernde Vielschichtigkeit aus. Der dritte Film des Regisseurs beinhaltet eine psychologische, eine politische und eine existenzielle Dimension. Er konfrontiert uns mit einer für die meisten fremden Welt und lädt zur persönlichen Auseinandersetzung ein, dies im Unterschied zu den Trivialgeschichten.

Psychologisch zeigt der Film, was ablaufen kann, wenn ein Mensch mit einer positiven Krebs-Diagnose konfrontiert wird, und was zwischen zwei Menschen, die zur Zusammenarbeit verpflichteten sind, äusserlich und innerlich geschehen kann. Politisch schildert der Film, ohne Polemik, doch mit Überzeugungskraft, die prekäre Situation der Landärzte in Frankreich. Und existenziell zeichnet er ein eindrückliches Bild des Landarztes und lässt spüren, welche Werte der Arzt-Beruf und das Arzt-Sein beinhalten kann. Es war wohl kein Zufall, dass ich mich während des Films mehrmals an Dr. Bernard Rieux, die Hauptperson im Roman «La peste» von Albert Camus, erinnerte: Der Pestarzt Rieux, der im Sinne des Existenzialismus dem Leben Sinn zu geben versucht. Dasselbe macht auch, auf eine unprätentiöse, bescheidene, Art Dr. Jean-Pierre Werner im «Médecin de Campagne».

Gegen Schluss des Filmes sitzt Jean-Pierre am Tisch und spricht zu sich, zu Natalie und zu uns: «Dieser Beruf zieht einen runter. Mir scheint, ich habe zwanzig Jahre nur mit Leiden, mit Nöten, mit Sorgen zu tun gehabt. Wir Ärzte reparieren nur. Wir reparieren, was die Natur verbockt. Wir müssen den Tatsachen in die Augen schauen. Für Gläubige bedeutet Natur vielleicht etwas anderes. Aber mir soll niemand sagen, dass die Natur etwas Schönes ist. Natur! Es gibt bestimmt Schönes, aber auch viel Schreckliches. Die Natur ist grausam. Also kämpfen wir ständig gegen die Grausamkeit. Warum nicht. Aber wir wissen, dass sie am Ende gewinnen wird. Und so wird es immer sein.» – Und nach einer kurzen Pause, mit einem leisen Lächeln auf den Lippen, folgt das längst erwartete «Ich bin froh, dass Sie hier sind. Ich bin froh» zur Kollegin.

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Die abgeordnete Assistentin Dr. Nathalie Delezia

Aus einem Interview mit dem Regisseur Thomas Lilti

 

Was hat Sie daran gereizt, eine Geschichte über einen Landarzt zu erzählen?

Bevor ich selbst Filme drehte, war ich Arzt. Diese Tätigkeit hatte mich des Öfteren in ausgesprochen ländliche Gegenden geführt. Die Jahre, in denen ich als junger Assistenzarzt immer wieder Landärzte zu vertreten hatte, die praktisch über alles in ihrer Umgebung Bescheid wussten, empfand ich als ungeheuer bereichernd. Als ich dann Filmregisseur wurde, war es für mich naheliegend, diese Erfahrungen filmisch umzusetzen.

Landärzte sind ja wahre Volkshelden, die von den Leuten verehrt werden. Leider handelt es sich aber um eine Spezies, die vom Aussterben bedroht ist.

Es wäre sehr wichtig, etwas gegen den zunehmenden Ärztemangel auf dem Land zu unternehmen und alles dafür zu tun, dass diese Ärzte nicht verschwinden. Für mich ist das ein soziales Anliegen von hoher Priorität, und daher habe ich beschlossen, es ins Zentrum des Films zu rücken. Aufgrund der Verödung ganzer Landstriche tendiert der Beruf des Landarztes ja leider tatsächlich dazu, allmählich zu verschwinden. Auch deshalb wird der Landarzt heute mehr denn je als positiver Held wahrgenommen. Er erfüllt eine sehr wichtige soziale Funktion, ist Bindeglied zwischen den Generationen und sorgt dafür, dass sich seine Patienten weniger einsam fühlen. Es lag mir sehr am Herzen, mich vor diesem Berufsstand zu verneigen.

Dr. Werner ist in einer Extremsituation: Schon zu Beginn erfährt man, dass er krank ist.

Die Figur eines kranken Arztes fand ich reizvoll. Sie bot mir den Schlüssel für den Zugang zu der romanhaften Dimension, nach der ich suchte. Nebenbei ermöglichte es mir die Figur eines kranken Arztes, fast beiläufig das Problem der medizinischen Versorgungswüsten zu thematisieren, ohne es allzu frontal anzusprechen. Hierbei ging es auch um das grundlegende Problem der Nachfolge und der Weitergabe von Wissen.

In der ersten Zeit behandelt er sie ziemlich herablassend.

Er stellt sie auf die Probe. Er ist ein Mann, der schon seit Langem alleine lebt und es gar nicht lustig findet, wenn jemand anderes in seinem Revier aufkreuzt. Ausserdem ist er krank, und er will nicht, dass das herauskommt. Diese Frau stellt für ihn folglich von Anfang an eine Gefahr dar. Sein herablassendes Benehmen ihr gegenüber hält jedoch nicht lange an, als ihm klar wird, dass die Frau einiges drauf hat. Er merkt, dass er sie vielleicht noch brauchen wird.

In Ihrem Film thematisieren Sie auch Probleme wie das der Gleichheit beim Zugang zur Gesundheitsversorgung und des Rechts, zu Hause sterben zu dürfen.

Ganz klar! Das Problem bezüglich des Rechts, zu Hause sterben zu dürfen, wird im Film unumwunden angesprochen. Und auch die Frage, wie auf dem Land häusliche Pflege zu organisieren wäre, hängt letztlich von einer politischen Entscheidung ab.

Werner überreicht Nathalie eine Ausgabe von Michail Bulgakows «Aufzeichnungen eines jungen Arztes», eine sicherlich sehr bewusst gewählte Referenz. Haben Sie sich für diesen Film auch von anderen Werken inspirieren lassen?

In der Tat liebe ich Bulgakows Arztgeschichten sehr. Auch John Bergers Buch «Geschichte eines Landarztes» hat mich inspiriert. Marianne Denicourt war es, die es mir zu lesen gab. Dann gab es auch noch den Fotoband «Médecin de campagne» von Denis Bourges, der für mich und meinen Kameramann Nicolas Gaurin eine wichtige Inspirationsquelle war. Im Vorwort zu diesem Band, das von Martin Winckler verfasst wurde, heisst es: «Landarzt zu sein, heisst Wurzeln zu schlagen, auch wenn man in der Stadt gross geworden ist und viel gereist ist. Man passt sich an den Rhythmus, den Zungenschlag, die Gepflogenheiten der jeweiligen Umgebung an. Man ist nicht nur Heiler von Krankheiten und Ansprechpartner für Kummer aller Art, vielmehr wird man auch Zeuge landschaftlicher Veränderungen, von Ereignissen im Dorf, von Abschied und Ankunft. Man ist Teil der Umgebung und der Gemeinschaft. Man gehört immer mehr selbst dazu.» Auch hiervon handelt mein Film.

Regie: Thomas Lilti, Produktion: 2015, Länge: 102 min, Verleih: Filmcoopi