Messies, ein schönes Chaos

Gratwanderung zwischen Genialität und Überforderung: Der an verschiedene Festivals geladene und mehrfach preisgekrönte Schweizer Dokumentarfilm „Messies, ein schönes Chaos“ von Ulrich Grossenbacher ist ein gültiger Beitrag zur Frage: Beherrschen wir das Chaos, oder beherrscht das Chaos uns?

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Schwer sind nicht nur die Möbelstücke.

Der Film gewährt einen differenzierten und vielschichtigen Einblick in den Alltag von vier Messies. Wir treten ein in die Aussen- und die Innenwelt der vier Protagonisten, lernen ihre genialen Erfindungen kennen, entdecken ihre gefährlichen Basteleien und stöbern in ihren unüberschaubaren Archiven. Dabei erleben wir die Konflikte, welche die Messies durch ihr Anderssein mit ihren Angehörigen, Nachbarn und den Institutionen zu bewältigen haben. Grossenbacher erlaubt uns einen intimen Einblick und bietet uns einen analysierenden Zugang in dieses irritierende und zugleich faszinierende Phänomen. Dieser Kinofilm beschreibt Privates und lädt gleichzeitig ein, darin Gesellschaftliches zu suchen und zu entdecken.

Ausgeführt wird die Thematik in einem zweistündigen, sensiblen und exakt beschreibenden, gelegentlich humorvollen, jedoch immer meisterhaft fotografierten und geschnittenen Filmessay. Der Filmemacher geht mit grosser Ernsthaftigkeit an die Menschen heran, die sich ihm öffnen, und begegnet ihnen in jeder Situation mit grossem Respekt. Konkret schildert er vier Schicksale, lässt dabei jedoch immer wieder aufscheinen, dass sich dahinter grundsätzliche Fragen der menschlichen Existenz verbergen. Dabei wird offenbar, wie schmal der Grat zwischen Genialität und Überforderung sich erweist, wie leicht es zu einem Absturz kommt, wie willkürlich die sogenannte Normalität definiert ist und wie fragwürdig solche gesellschaftlich anerkannten Normen sind. Der Trailer vermittelt einen ersten Einblick in diese fremde Welt.

Aus einem Statement des Regisseurs

„Vor nicht ganz 30 Jahren kam ich zum ersten Mal mit einem Messie in Kontakt. Peter Moll war Fotograf, Autorennfahrer, Meditationslehrer, Pilot und Computerspezialist. Er bereiste die ganze Welt und brachte viele Dinge mit nach Hause, wo sich nach und nach eine riesige, exotische Sammlung anhäufte. Damals gehörte ein „Puff“ zur Grundausstattung einer antibourgeoisen Haltung und fiel nicht weiter auf. Peter hatte mehrere Fernsehgeräte aufeinandergestapelt, die er gleichzeitig laufen liess, sozusagen eine Vorform des heutigen Zappens. Die Sonntage verbrachten wir morgens zusammen meditierend und nachmittags vor dem Fernseher bei Übertragungen von Formel-1-Rennen. Selten habe ich mich mit einem Freund glücklicher gefühlt. Leider verstarb Peter bereits sehr jung an einem Herzinfarkt, wie wenn sein schwaches Herz diese vielen Aktivitäten schlecht ertragen hätte. Peter wunderte sich manchmal über die Materialberge seines Bruders Thomas, dessen Anhäufungen die seine noch um ein Mehrfaches übertrafen. Über die Jahre entwickelte Thomas seine Sammlungen weiter, und vor einiger Zeit eröffnete er mir, dass er ein „Messie“ sei. Als er erklärte, was darunter zu verstehen sei und wie „Messies“ leben, war mir sofort klar, dass ich darüber einen Film machen möchte.“

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Im Überfluss Orientierung und Sinn verloren.

Ein Chaos, das mehr ist als Chaos.

Der Film nimmt einen mit in eine fremde Welt, konfrontiert einen mit Menschen, die ganz anders sind als die meisten von uns. Bei genauerem Hinsehen entdecken wir jedoch da und dort Ähnlichkeiten mit Verhaltensweisen der sogenannten Normalen. Diese unangepassten Menschen folgen einer eigenen Wert- und Ordnungslogik und setzen sich dadurch in Widerspruch zu den gängigen gesellschaftlichen Vorstellungen, offenbaren und entlarven gerade in einem sauberen und ordentlichen Land wie der Schweiz eine grosse Differenz. Aufgrund einer inneren Notwendigkeit können sie jedoch nur auf ihre ganz bestimmte Weise leben. Wodurch Konflikte entstehen, sich ein Leidensdruck bildet, den sie und gelegentlich Partner auszuhalten haben. In diesem Spannungsfeld zwischen persönlichem Glück und gesellschaftlichem Leiden ist der Film von Ludwig Grossenbacher angesiedelt.

Die Länge des ganzen Films, welche eine Vertiefung erlaubt, die Beschränkung auf wenige Personen, welche die Individualitäten erlebbar macht, und die langen Sequenzen und das Weglassen von Kommentaren, welche uns ermöglichen, den vier Menschen zu begegnen, schaffen eine Gesamtstimmung von Ernsthaftigkeit, gelegentlich mit humorigen Momenten, und eine emotionale und intellektuelle Vertiefung, die wohl allen etwas bedeutet.

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Nicht nur der Messie leidet, auch die Partnerin.

Eine höchst informative Website der Produktionsfilme enthält die Fortsetzung des obigen Statements des Regisseurs, einen klugen Essay von Damaris Lüthi, eine wertvolle Literaturliste und viele weitere interessante Auskünfte über den Film und das Phänomen der Messies: www.messies.ch