My Generation
Im Dokumentarfilm «My Generation» von Veronika Minder stellen sich drei Frauen und drei Männern des Jahrganges 1948 vor, die als Zwanzigjährige einiges von der 68er-Bewegung mitbekommen haben.
Im Dokumentarfilm «My Generation» verreisen sechs heute Sechzigjährige – mit uns – in eine Vergangenheit, die sie je verschieden erlebt haben: die Tänzerin Uschi Janowsky, der Physiker Jean-Pierre Ruder, der Drummer Fredy Studer, die nach Mystik Suchende Mary-Christine Thommen, der Journalist Willi Wottreng und die dreimal verheiratete Patrizia Habegger. Der Film kann Gleichaltrige oder auch Nachgeborene bei ihrer Erinnerungsarbeit anregen und herausfordern.
Interessant vor allem für die um 1948 herum Geborenen
Für einige der Dargestellten war eine explizit linke politische Haltung wichtig, für andere die sexuelle Befreiung, die Karriere, Reisen in die weite Welt oder das Ausprobieren neuer Lebensformen. Der Report reflektiert ihre Jugend, die 68er-Bewegung, die fundamentalen gesellschaftlichen Veränderungen der letzten Jahrzehnte und ihre Ansichten über die Zukunft. Neben biografischen Fakten werden darin auch philosophische Motive wie die Auseinandersetzung mit der eigenen Vergänglichkeit beleuchtet.
Gekonnt verknüpft die Autorin Interviews, historische Sequenzen, Alltagsszenen, Fotos, private Super-8-Aufnahmen mit persönlichen Geschichten und ungewöhnlichem und überraschendem Archivmaterial. «My Generation» erweist sich als spannende, facettenreiche Zeitreise von der Gegenwart in die Vergangenheit und zurück. Die sechs Porträts dürften weniger repräsentativ, als viel mehr individuell von grossem Interesse sein.
Anmerkungen der Regisseurin Veronika Minder
Mein Film porträtiert drei Frauen und drei Männer, die 1948 geboren worden sind. Deren Lebensentwürfe, Ansichten und Einsichten haben mich bei meiner Recherche persönlich sehr berührt. Bei einigen sind es die Brüche und die Verletzungen, mit denen sie konfrontiert wurden, bei anderen ihre Weltanschauungen oder ihr ungebrochener Elan und ihre Vitalität.
Der Film streift wichtige geschichtliche Ereignisse nur am Rand. Mich interessieren vor allem die individuellen Lebensgeschichten, das persönlich Erlebte der Porträtierten, ihre damalige Haltung dazu und wo sie heute, als ältere Menschen, stehen.
Wir ersten Babyboomer sind die Generation, welche die ländliche und ärmliche Schweiz der Nachkriegsjahre als junge Menschen erlebt hat. Wir erinnern uns noch lebhaft an muffige und überfüllte Schulstuben, prügelnde Lehrer, Pausenmilch und Schiefertafeln. An winzige Kinderzimmer in engen Wohnungen. An die Mittagessen am Familientisch mit dem Zeitzeichen und den Nachrichten von Radio Beromünster. An handgestrickte Strumpfhosen, Ärmelschoner, Schürzen, Knickerbocker.
Erst als Teenager sind wir in einem boomenden Westeuropa in die frühe Konsumgesellschaft hineingewachsen. 1968 wurden wir 20 und lehnten uns in einer weltweiten Bewegung gegen die politischen und moralischen Ansichten unserer Eltern auf. Doch dieser historische Einschnitt war nicht für alle zentral.
Dass die ersten Babyboomer nun ins Rentenalter kommen, ist eine Plattitüde. Und ebenfalls ausgelutscht ist das Thema «1968 – und die Folgen». Warum also wieder ein Film, der um diese Bereiche kreist? Der ältere Menschen ins Zentrum stellt? Jene «grauen Mäuse», von denen es ja nicht umsonst heisst, dass sie in nächster Zukunft die Sozialwerke belasten werden, die schuld sind an Kuschelpädagogik, political correctness und Birkenstocksandalen?
Da ich selbst eine von denen bin, will ich zum belasteten Thema andere Bilder und Geschichten beitragen. Daher begann ich vor vier Jahren, über Gleichaltrige zu recherchieren. Ich konzentrierte mich auf meinen eigenen Jahrgang, weil ich 1968 ja selbst 20 wurde.
Meine Hauptfragen an die Interviewten waren: Wo kommen wir her? Warum sind wir die geworden, die wir sind? Was ist aus unseren Idealen geworden? Wie gestalten wir unsere Gegenwart – und wie gehen wir mit dem Älterwerden um? Oder auch: Gibt es ein Leben nach dem Tod?
Ein Blick auf die historischen Hintergründe
1948 bis 1968
Im Jahre 1948 wurden die Menschenrechte erklärt, die Währungsreform eingeführt, der Staat Israel gegründet und begann für die Palästinenser die Nakba.
Das Blockdenken des Ost-West-Konflikts, der so genannte Kalte Krieg, begann die politische Agenda der nächsten Jahrzehnte zu beherrschen. Trotzdem glaubte man damals wieder an die Zukunft.
Eine direkte Folge davon waren die frühen Babyboomer, die geburtenstarken Jahrgänge der nach dem Krieg Geborenen. Deren Kindheit und Jugend waren überschattet von der Angst vor der Atombombe und dem Kommunismus.
In den Schulen herrschten Drill und Körperstrafe und kratzten die Kinder mit Griffeln auf Schiefertafeln. Spielplätze, falls es welche gab, waren kahl und fantasielos. Mädchen trugen Schürzen und gestrickte Strumpfhosen, nur bei Schnee oder zum Skifahren waren Hosen erlaubt.
Ohne diese Vorgeschichte zu kennen, fällt es heute schwer, die 1968er-Revolte der Hippies, Studenten und Lehrlinge, Feministinnen oder Bürgerrechtsaktivisten zu verstehen.
Schon die Existenzialisten und Nonkonformistinnen, die Rocker und Halbstarken kämpften gegen das verkrustete Establishment der Nachkriegszeit. Doch erst der amerikanischen Bürgerrechtsbewegung und den frühen Hippies Mitte der 1960er-Jahre gelang es, die Protestkultur zu einem allgemeinen, weltweiten Phänomen zu machen.
1966 bis 1977
Diese Zeitspanne war für die Menschen im Film prägend. Viele Jugendliche flüchteten damals aus einem meist einengenden Elternhaus oder wurden rausgeschmissen und nahmen ihr Leben selbst in die Hand.
Sie waren wegen der Pille sexuell freier als frühere Generationen, waren neugierig, flexibel und verfügten in der Hochkonjunktur häufig über schnell verdientes Geld.
Nach dem Motto «Unter dem Pflaster liegt der Strand» eroberten sie den öffentlichen Raum. Und wenn dies in der Heimat nicht ging, brachen sie nach Kabul, Goa, Katmandu oder Ibiza auf. Sie fühlten sich als Teil einer neuen Avantgarde, kreierten ihre eigene Mode, hörten laute Musik und lebten nach eigenen ethischen Grundsätzen.
Die Angst vor Jobverlust und sozialem Abstieg waren in diesen Zeiten der Vollbeschäftigung nicht vordergründig. Man lebte nach dem Lustprinzip. Hauptsache: anders als die Elterngeneration.
1980 bis ins dritte Jahrtausend
Viele Menschen mit Jahrgang 1948 waren überzeugt, das Jahr 1984 nicht zu erleben. Sie konnten sich nicht vorstellen, älter zu werden: «Traue keinem über 30» und «Alles! Jetzt!» waren ihre Parolen. Umso mehr war es für etliche ein Schock, in den Augen der Punks in der zweiten Hälfte der 70er-Jahre plötzlich als «langweilige alte Fürze» dazustehen.
Der Schock war für viele durchaus heilsam, machte er doch klar, dass es langsam nötig wurde, ein Leben als Erwachsene zu führen. In den 80er-Jahren hatten die meisten auf dem «Marsch durch die Institutionen» beruflichen Erfolg. Die Wildesten kriegten die Kurve nicht. Einige stürzen in die Drogenszene ab. Ein paar wenige halten die alten Ideale bis heute hoch. Nach Glasnost, Perestroika und dem Fall der Berliner Mauer stossen ihre politischen Ziele und Lebensformen heute oft auf wenig Verständnis.
Die Mitwirkenden im Film «My Generation»
Fredy Studer: «Damals gab es noch keine Jugendhäuser, so haben wir manchmal nachts im Parkhaus eine Session gemacht.»
«Kulturell war das eher prolo», meint der Schlagzeuger über seine Herkunft. Die Eltern waren beide Verdingkinder und arbeiteten später bei der Viscosuisse in Emmenbrücke. Die Lehre als Hochbauzeichner machte er eher widerwillig, aber als Drummer hatte er in Luzern schon bald einen guten Namen. In den frühen 1970ern spielte er als Schlagzeuger Rock-Jazz in der Formation OM und wurde national und international bekannt. Der Autodidakt hat mit zahlreichen Grössen des Jazz zusammengespielt und ist auf über 50 Tonträgern zu hören. Sein Tourneeplan ist immer noch voll. Häufig ist er im Trio mit Hans Koch und Martin Schütz unterwegs oder spielt mit seiner neuen Gruppe «Phall Fatale». Er lebt mit seiner Lebenspartnerin Katharina zusammen. Die beiden sind seit dreissig Jahren ein Paar, im Leben des trommelnden Weltenbummlers ist sie der Fixstern.
Patrizia Habegger-Egli: «Älter als 45 wollte ich auf keinen Fall werden, alles darüber schien mir uralt.»
Patrizia wuchs als Einzelkind in Bern auf, der Vater war Patentanwalt, die Mutter Hausfrau. Der grösste Wunsch des Vaters war, dass die Tochter studiert. Sie lehnte sich aber früh gegen das autoritäre Elternhaus auf und rebellierte. Sie verkehrte in einschlägigen Bars und Kneipen, wurde bald schwanger und zog mit ihrem ersten Ehemann und der kleinen Tochter nach Paris. Doch das vermeintliche Eheglück hielt nur kurz. Es kam zur Scheidung. Patrizia lebte in WGs und pendelte in den 1970ern zwischen der Schweiz und Indien. Sich und ihr Kind hat sie mit Nähen und Gelegenheitsjobs über die Runden gebracht. Mit ihrem dritten Ehemann, dazwischen lagen eine weitere Scheidung und mehrere Trennungen, ist sie seit über 20 Jahren zusammen. Pät, wie sie sich nennt, kann nur noch stundenweise arbeiten, denn sie leidet an gravierenden Spätfolgen eines Unfalls mit dem Deltaflieger und bezieht eine Invalidenrente.
Uschi Janowsky: «Ich habe mich erst mit 30 getraut, meine Mutter zu fragen, wer mein Erzeuger ist.»
Uschi ist ein «Produkt von Schokolade und Seidenstrümpfen» und hat als Besatzerkind in Deutschland eine schwierige Jugend erlebt. Sie kommt aus ärmlichen Verhältnissen, trotzdem haben die Eltern, die Mutter verheiratet sich später, dem begabten Kind den Besuch einer Ballettschule ermöglicht. Mit 17 erhielt sie ein Engagement als Gruppentänzerin am Städtebundtheater Biel-Solothurn und zog in die Schweiz. Sie heiratete, trennte sich zwei Jahre später und arbeitete mehrere Jahre als Serviceangestellte, um sich und ihre Tochter über die Runden zu bringen. 1978 eröffnete sie in Biel ihr eigenes Afro-Jazztanz-Center. Uschi erhielt verschiedene Preise, auch ein Stipendium für einen halbjährigen Aufenthalt in New York. Seit 2000 unterrichtet sie in einem Tanzstudio, ist Gastdozentin an der Sportschule Magglingen, den Universitäten Basel und Lausanne und arbeitet in einem Heim für Menschen mit einer geistigen Behinderung. Rassismus und die Suche nach der eigenen Identität sind für Uschi Themen, die sie bis heute beschäftigen. Nachdem sie lange ihre Wurzeln in Afrika gesucht hat, sieht sie sich heute als Weltbürgerin, die gerne in einer Kleinstadt wie Biel wohnt.
Jean-Pierre Ruder: «Das Weltall interessierte mich auf der Suche nach der eigenen Menschwerdung.»
Jean-Pierre Ruder hat eine zielgerichtete akademische Karriere verfolgt. Schon im Gymnasium hat er sich für Naturwissenschaften interessiert, danach studierte er an der Universität Bern Chemie und Physik. Nach dem Studium ging er mit seiner Frau und den zwei kleinen Kindern «postgraduate» nach Kanada. Ab 1981 arbeitete er in der eidgenössischen Verwaltung, zunächst beim BAG, später machte er eine Karriere beim EDI. Dort beschäftigte er sich mit Raumfahrt, Astronomie, Teilchenphysik und war Vertreter der Schweiz in internationalen Gremien wie dem CERN. 2008 kündigte er beim Staatssekretariat für Bildung und Forschung, als 60-Jähriger mochte er nicht mehr 120 % arbeiten. Heute ist er zu 50 % als Projektleiter an der Universität Zürich angestellt. Jean-Pierre glaubt nicht an Gott und an ein Leben nach dem Tod. Religionen oder kreationistisches Gedankengut sind nicht sein Ding. Übers Älterwerden drückt er sich pragmatisch aus: Zerfall ist für ihn ganz einfach eine biologische Tatsache.
Mary-Christine Thommen-Gilomen: «Heute versuche ich, mit der Stille zu leben.»
Nach einer einsamen, leidvollen Kindheit, die sie zum grossen Teil allein mit der Mutter verbracht hatte, besuchte Mary-Christine in Bern eine Handelsschule. Um von zu Hause wegzukommen, heiratete sie früh und wurde bald Mutter. Sie war eine passionierte Mama, die alles besser machen wollte als ihre Mutter. Ihre Sehnsucht nach einem bürgerlich geordneten Leben erfüllte sich aber nicht, sie trennte sich von ihrem Mann, «der nicht Liebe gesucht hat, sondern Sex». Sie hatte es nicht leicht als alleinerziehende Mutter, war aber beruflich erfolgreich und begegnet mit 38 der Liebe ihres Lebens. Als diese jedoch zerbrach, konzentrierte sie sich völlig auf ihre Arbeit als Sachbearbeiterin. Ihren Verdienst legte sie auf die hohe Kante, um sich ihren Lebenswunsch vom eigenen Haus zu erfüllen. Anfangs der 1990er kaufte sie sich eine Ruine im Basler Jura und fuhr jedes Wochenende dorthin, um so viel wie möglich selber zu renovieren. Mit 60 liess sie sich vorzeitig pensionieren, heute lebt sie hauptsächlich in Frankreich. Sie ist eine Suchendem und beschäftigt sich intensiv mit der christlichen Mystik.
Willi Wottreng: «Ich werde nie mehr Flugblätter verteilen.»
Willi wuchs als mittleres von drei Kindern auf und erlebte eine heitere und unbeschwerte Jugend in Uitikon. 1961 bis 1967 besuchte er das neu erbaute Gymnasium Freudenberg, damals ein reines «Buben-Gymi». Anschliessend studierte er Geisteswissenschaften, war Redaktor beim «Zürcher Student» und engagierte sich im Vorstand des Verbandes Schweizerischer Studentenschaften. 1971 beendete er seine Studien in Philosophie, Politologie und Geschichte an der Universität Marburg. Wieder in Zürich, schloss er sich einer maoistischen Gruppierung an und baute mit Kollegen und Freundinnen die kommunistische Partei der Schweiz marxistisch/leninistisch auf. 1986 kam es zum Eclat. Willi ist mit seiner Freundin aus der Gruppe ausgestiegen und in eine Krise gefallen. Als bald 40-Jähriger musste er sich neu definieren. Er begann, als Journalist zu arbeiten. Seit 2002 ist er Redaktor im Ressort «Hintergrund und Meinungen» der «NZZ am Sonntag», wo er die Rubrik «Nachrufe» betreut. Ab 1995 hat er sich auch als Autor von Büchern zur Schweizer Sozialgeschichte einen Namen gemacht. Bislang sind mehr als ein Dutzend Publikationen von ihm erschienen.