Nomadland
Fern im amerikanischen Westen
«Das letzte Stückchen Freiheit in Amerika ist ein Parkplatz», schreibt Jessica Bruder, die Autorin der Buchvorlage für den Film «Nomadland» von Chloé Zhao. Er handelt von Fern, die wie viele in den USA nach der grossen Rezession 2008 alles verloren hat. Nach dem wirtschaftlichen Zusammenbruch einer Industriestadt im ländlichen Nevada und dem Tod ihres Mannes, der dort in einer Gipsmine gearbeitet hat, packt sie ihre Sachen und bricht in einem Van auf, ihr Leben ausserhalb der Konventionen als moderne Nomadin zu erkunden. Im Film spielen echte Nomaden wie Linda May, Swankie und Bob ihr Leben, ebenso Ferns Mentor bei ihrer Erkundung der Landschaften und Menschen im amerikanischen Westen. Neben der grossartigen Frances McDormand als Fern gibt es auch noch David Strathairn als David, dem sie sich etwas nähert, als Professionelle, und weitere Personen, denen sie auf der Strasse begegnen. Fern stellt sich der Herausforderung, entdeckt eine ungekannte Stärke und beginnt ein neues Leben. Bei den Treffen der Nomaden erlebt sie Gemeinschaft. Am wichtigsten ist jedoch, dass sie sich, wie die Regisseurin es ausdrückt, «in der Natur weiterentwickelt: in der Wildnis, den Felsen, Bäumen, Sternen und in einem Wirbelsturm», in einer Welt, in der sich niemand endgültig verabschieden muss, weil man sich irgendwann, irgendwo wieder begegnet. Sie alle reisen nicht wie Touristen, sondern als Suchende mit dem Ziel, Arbeit zu finden, während die Leere der Wüste sich über die Kollateralgeschädigten des Kapitalismus wie ein heilender Verband legt. Die Performance als kurze Gleichung: Die professionellen Schauspieler*innen übersetzen eine Geschichte in eine Rolle, die Laiendarsteller*innen binden diese an den Alltag zurück.
Fern und David
Das Gesicht einer andern Lebensform
Als Nomaden werden Menschen bezeichnet, die aus wirtschaftlichen Gründen eine nicht-sesshafte Lebensweise führen. Zumeist folgen ihre Wanderungen wiederkehrenden Mustern, die vor allem wegen schwankender klimatischer, heute wohl eher ökonomischer, sozialer oder politischer, Bedingungen notwendig werden. Im Film kondensiert sich der uramerikanische Mythos vom Unterwegssein; doch vielleicht ist der Traum von Wohlstand und Gerechtigkeit für die Menschen in «Nomadland» schon längst zerbrochen.
«Für die Recherche zu meinem Buch, das später für den Film verwendet wurde», erzählt Jessica Bruder, «tauchte ich tief ein in den Alltag der Menschen, über die ich schreiben wollte. Ich lebte wochenlang in einem Zelt, während Monaten in einem Van. Erfahrungen waren mein Lehrmeister. Anfang wusste ich nur wenig über die Nomaden; am Ende war ich fasziniert von der Kreativität, Widerstandsfähigkeit und Grosszügigkeit, die ich bei ihnen erlebte.
Bob Wells, ein Engagierter für die Nomaden, berichtet an einem Treffen in Arizona: «Ich war ein obdachloser Penner, der in seinem Van gelebt hatte. Das war eine schlimme Zeit in meinem Leben. Doch ich konnte meine Probleme lösen und brachte mein Leben wieder auf die Reihe. Dann passierte etwas Eigenartiges: Ich habe mich in das Leben auf der Strasse und in die Freiheit verliebt. Zuvor hatte ich alles getan, was die Gesellschaft verlangt hatte, suchte mir einen Job, bekam Kinder, kaufte ein Haus. Doch nichts hat mich erfüllt oder glücklich gemacht. Hier in der Wüste hatte ich das Gegenteil von dem erlebt, was mir die Gesellschaft gesagt hatte, und zum ersten Mal in meinem Leben war ich glücklich. Daraufhin stellte ich alles andere infrage.»
Die Regisseurin und die Hauptdarstellerin
Bedeutungen für Amerika ...
Vor «Nomadland» gab es schon andere Werke, die von Amerika handelten und Deutung dieses Landes und Volkes versuchten und damit auch mehr als nur Amerika meinten. Hier einige Beispiele:
1939 war es John Steinbecks Roman «Die Früchte des Zorns» und 1940 die gleichnamige Verfilmung von John Ford, die nach dem New Deal einen moralischen Appell an die Gesellschaft richtete, der auch heute noch gilt.
1957 bewegte der Film «Die zwölf Geschworenen» von Sidney Lumet, aus einem anderen Lebensbereich, jenem der Justiz und der gesellschaftlichen Gerechtigkeit, das moralisch-ethische Bewusstseins der Amerikaner*innen, das auch heute noch und in der ganzen Welt.
In den späten 60er-Jahren kündigte der Kultfilm «Easy Rider» mit Peter Fonda, Dennis Hopper und Jack Nicholson von der Flower-Power-Bewegung der Ostküste Amerikas, war Abbildung, Vorbild und schliesslich Sinnbild eines andern Amerika, einer andern Welt.
Vor Kurzem kam der Dokumentarfilm «The Bubble» von Valerie Blankenbyl in unsere Kinos, der eine eher unbekannte Seite Amerikas zeigt: jene der 150'000 amerikanischen Silver Agers im sonnigen Florida, die ihr Alter geniessen wie viele Republikaner, die den Sozialstaat abgeschafft haben möchten. Ein Film, als Kritik gelesen, der wieder ein anderes Amerika zeigt.
Weitere Vergleiche und Bezüge würden die künstlerische Grösse von Chloé Zhaos und Frances McDormands «Nomadland» weiter sichtbar, hörbar und nachvollziehbar machen: als Amerika- und Welt-Deutung der anderen Art.
Abschied, um sich irgendwann wieder zu treffen
... und die Welt
Nimmt man die Sätze, Blicke, Gesten und verschiedenen Milieus und Atmosphären wirklich wahr, so entsteht vor uns ein besonderes Universum Amerikas und der Welt, als Gegensatz zu den Bildern einer Welt, die auf dem besten Weg ist, sich selbst zu zerstören: die Umwelt, die Innenwelt, die Menschenwelt. Vor einem solchen Hintergrund erhält «Nomadland» noch mehr Gewicht, denn der Film lädt zu Deutungen ein, nicht zu Antworten, sondern zu Fragen, auf die wir Antworten zu suchen haben.
«Nomadland» ist ein Roadmovie-Drama, ungewohnt und tiefsinnig, nicht gradlinig, sondern dialektisch, mit These, Antithese und Synthese, nicht linear, sondern zyklisch im Kreis sich drehend. Der Film nimmt uns mit auf eine Reise in atemberaubende Panoramen und eine Poesiewelt, welche die Freiheit des Pioniergeistes atmet. Zusammen mit Fern, bei der man nie weiss, von wo sie weg- oder wo sie hinwill, treiben wir Zuschauer*innen durch den Film wie die Nomaden durch die Jahreszeiten.
«On the Road» ist eine existenzielle Daseinsform wie der «Homo viator» von Gabriel Marcel, Mensch-Sein als Gehender, diesmal als die gehende Frau, vergleichbar mit den gehenden Männern von August Rodin oder von Alberto Giacometti – für den Film vorbereitet von Jessica Bruders Sachbuch, in Szene gesetzt von der vielfach ausgezeichneten Chloé Zhao, produziert und verkörpert von Frances McDormand, der stets uneitlen Oscar-Gewinnerin, einer Frau, die uns im Film nahe kommt, begleitet von den weiteren Darsteller*innen, ob Laien oder Professionellen, und visualisiert von Joshua James Richards einfühlsamer Kamera und akustisch von Ludovico Einaudis uns entführender Musik.
Regie: Chloé Zhao, Produktion: 2020, Länge: 108 min, Verleih: Walt Disney