Nothingwood
Salim Shaheen mit Assistent
Vorbemerkung: Nimmt man das Label «Der andere Film» ernst, so gehört der Film «Nothingwood» unbedingt dazu, weil er so quer in der Landschaft steht: Er zeigt einen anderen Film, ein anderes Kino, eine andere Welt.
In Afghanistan ist Filmkultur schwierig. Trotzdem dreht der Selfmade-Regisseur Salim Shaheen einen Film nach dem andern. Seit über dreissig Jahren lebt er seinen Kindheitstraum und hat über hundert Zero-Budget-Filme produziert. Inspiriert von Hollywood und Bollywood, aber dennoch ganz anders, schaffte er es zum Star im Land. Die Leute lieben ihn und seine Filme, als wäre er Tom Cruise und Steven Spielberg in einem. Nicht einmal die Taliban konnten sich seinem Erfolg entziehen, heimlich schauten sie seine Filme, die in der Zwischenzeit auch auf Youtube zu sehen sind.
Die afghanische Hauptstadt Kabul weckt wohl bei niemandem Assoziationen zu einer Filmmetropole. Im eigentlichen Sinn gibt es auch keine. Doch wenn das Volk Bock auf Kino hat, wendet es sich an Salim, der als Schauspieler, Regisseur und Produzent in Personalunion die Filmkultur des Land repräsentiert. Obwohl «Kultur» bei seinen trashigen Hauruck-Filmen wohl etwas hoch gegriffen ist. Der Mann kann weder schreiben noch lesen, dreht aber Filme seit der VHS-Zeit. 1985 kaufte er die erste Kamera. Damals war das Land noch unter Sowjet-Besatzung. Wegen der Taliban musste er nach Pakistan fliehen und seine Filme dort drehen. Seine Blütezeit erlebte er unter Hamid Karzai (2001 bis 2014 Präsident von Afghanistan), als die Kinos wieder öffneten. Salim Shaheen strotzt vor Enthusiasmus – in einem Land, das trotz Gewalt und Korruption nach Entertainment dürstet.
Mit Sonja Kronlund im Gespräch
Eine Journalistin porträtiert den Filmemacher
Dass wir diesen Tausendsassa des Kinos kennenlernen, verdanken wir der schwedisch-französischen Journalistin Sonia Kronlund, einer ausgewiesenen Afghanistan-Kennerin. Seit fünfzehn Jahren berichtet sie fürs Radio und Fernsehen aus der Region, meist von Gräueltaten wie Selbstmordanschlägen und Steinigungen. Sie hat Salim Shaheen entdeckt und über ihn ihren ersten Kinofilm gedreht: «Nothingwood» oder «The Prince of Nothingwood». Dafür wurde Sonja von Salim mit offenen Armen empfangen. Als sie sich begegneten, dreht er gerade gleichzeitig vier Filme. Alles in seinen Filmen wirkt billig: die Inszenierung, das Schauspiel, die Bildqualität. Gedreht wird mit einer kleinen Videokamera, danach zirkulieren die Filme auf DVD. Der Film von Kronlund hatte ihm zu einer Einladung nach Cannes verholfen, wo er Begeisterungsstürme erntete und «Le Monde» ihn als «Un documentaire à la fois drôle et éclairant» bezeichnete.
Salim wurde von Sonia anteilnehmend und kritisch begleitet. So wurde «Nothingwood» das Porträt eines Mannes, der das afghanische Kino quasi alleine stemmt. Mit nichts ausser der Idee des Kinos als Traumfabrik dreht er jährlich um die zehn Filme. Zeitgleich zum Dreh spielten sich in anderen Teilen des Landes Anschläge, Kidnapping und amerikanische Luftschläge ab. Vielleicht ist das hier zelebrierte Im-Film-Sein als emotionalen Schutzraum zu verstehen?
Die Filmemacherin befragt beim Dreh des 111. Streifens die Leute vor und hinter der Kamera, ist aber nicht bloss stille Beobachterin, weshalb sie auch gelegentlich gefoppt wird, wenn sie die ambivalenten Seiten von Shaheen und seinen Leuten zeigt. Beispielsweise wenn seine Frauen nicht im Bild gezeigt werden dürfen, wenn Qurban Ali, sein Lieblingsdarsteller für Frauenrollen, in einer Burka auftritt und eine Travestie zum Besten gibt. So viel liberales Entgegenkommen für homosexuell angehauchte Aktivitäten hat man wohl in Afghanistan nicht vermutet. Ihre fragile Stimme kommentiert ihre Beobachtungen aus dem Off. Sie ist auch im Bild Ansprechpartnerin und geniesst als Fremde einen gewissen Freiraum. Für Shaheen ist sie eine Kollegin. Schon zu Beginn bemerkt er anerkennend, dass er sie eigentlich als Mann betrachte.
Von der Bevölkerung gefeiert
Ein provozierendes Dokument
Auch wenn Sonia Kronlund mit «Nothingwood» die fröhlichere Seite des Landes zeigt als in ihren Reportagen, wird der Krieg auch im Dokumentarfilm nicht ausgeblendet. Die Taliban sind zwar vertrieben, doch ihre Spuren bleiben. Sonia schickt Salim und seine Leute zu den Buddhas von Bamiyan, die 2001 weggebombt wurden, und schneidet Nachrichtenbilder von Bombenattacken aus dem benachbarten Dorf in den Film. Ganz geheuer scheint es ihr auf der Fahrt ins Hinterland jedoch nicht zu sein, weshalb die besorgt fragt, ob das Gelände wirklich nicht vermint sei. Er versucht, ihr die Angst zu nehmen: «Wenn Sie sterben sollten, wäre das nur Gottes Wille.»
Was hinter dem Klamauk in «Nothingwood» Gestalt wurde, ist die aussergewöhnliche und provozierende filmische Befragung und Beschreibung eines Volkes, am Beispiel einer extremen Person. Dabei werden Spannungen zwischen religiösem Fundamentalismus und Faszination für die spielerischen Möglichkeiten des Kinos spürbar, ebenso zwischen traditionellen Geschlechterrollen und ihren Überschreitungen im Schutze der Fiktion. Dennoch registriert die Regisseurin Spuren einer Traumatisierung der Männer. Da Frauen auf der Leinwand verboten sind, verkörpert ein Mann Frauen mit überzeugender Queerness. Seine weiblichen Gesten stellen beim Drehen keine gesellschaftliche Bedrohung dar, sondern faszinieren die Soldaten, die ausserhalb dieses szenischen Zusammenhangs offene Homosexualität nicht tolerieren.
Ist also «Nothingwood» ein Spiegel der Gewalt oder bereits deren Bearbeitung? Shaheens Filmschaffen begann mit Prügelszenen ohne weiteren Plot, gleichzeitig finden sich darin aber auch Momente der Überhöhung, die Distanz zum Geschehenen schaffen. So berichtet ein überzeugter Taliban von seiner Begeisterung für Shaheens Arbeiten, die zwar unter das Darstellungsverbot fallen, rechtfertig sie aber mit ihrem Patriotismus. Sonia Kronlund spielt eine Szene ein, in der Salin Shaheen sein Vaterland beschwört, die bruchlos in einen männlichen Tanzreigen übergeht. Der Film macht insgesamt deutlich, wie leidvoll-traumatische Erfahrungen eines jahrzehntelangen Krieges eine unglaubliche Filmproduktion antreiben, in die auch seine eigene, von Gewalt geprägte Lebensgeschichte einfliesst.
Regie: Sonia Kronlund, Produktion: 2017, Länge: 85 min, Verleih: Sister Distribution