Nuestras madres

Hommage an die Mütter: Guatemala war während dreissig Jahren von Bürgerkriegen beherrscht. Heute hilft Ernesto, Menschen zu identifizieren, die seit damals verschwunden sind, und macht dabei eine unerwartete Entdeckung. «Nuestras madres» von César Díaz ist Fiktion und Dokumentation, ist informativ und bewegend. – Ab 19. November im Kino
Nuestras madres

Ernesto und seine Mutter Cristina

Ernesto setzt Skelette zusammen, die aus Massengräbern stammen. Er ist Forensiker und soll herausfinden, welche Knochen zu welchem Menschen gehören. Eines Tages bittet ihn eine alte Frau, Doña Maria, in ihrem Dorf ein Grundstück zu durchsuchen, auf dem sie die Überreste von Juan Manuel, ihrem Mann, vermutet. Dieser war vor vielen Jahren nach einem Militärangriff verschwunden. Auf dem Foto, das sie Ernesto zeigt, glaubt dieser, seinen eigenen Vaters zu erkennen, der ebenfalls verschwunden ist und über den seine Mutter sich ausschweigt. Ernesto macht sich an die Arbeit, für die Mütter und für sich. Mit dem Bild eines Skeletts beginnt und schliesst der Film, wohl einer Schlüsselszene: Die Rekonstruktion des Körpers steht für die Rekonstruktion der Geschichte. Denn 1960 wurde das mittelamerikanische Land von einem heftigen Bürgerkrieg erschüttert. Die rechte Regierung bekämpfte linke Guerilla-Gruppierungen und verübte Gewaltakte an indigenen Gemeinschaften.

Der guatemaltekische Regisseur César Díaz gibt seinem Film «Nuestras madres», der Fiktion und Dokumentation ist, eine emotionale Kraft und stille Schönheit. Er bietet den Frauen, Müttern und Töchtern einen Auftritt, um Gerechtigkeit zu verlangen. Ihre Suche nach den verschwundenen Männern, Vätern und Söhnen bilden die gesellschaftliche Dimension, Ernestos Suche nach seinem Vater die individuelle. Dafür bewegt sich der Film mal auf der einen, mal auf der andern Ebene. Die beiden Geschichten spielen vor dem Hintergrund eines öffentlichen Strafprozesses, bei welchem Frauen über die erlittenen Misshandlungen aussagen.

Nachfolgend führt uns der Filmemacher mit einigen Antworten aus einem Interview, das im Anhang integral abgedruckt ist, durch den Film.

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Doña Maria sucht den Leichnam ihres Mannes


Wie ist «Nuestras Madres» entstanden?


«Ich war auf der Suche nach einem passenden Drehort für einen Dokumentarfilm in Uspantan, wo während der Militärdiktatur ein grosses Massaker stattgefunden hatte, war dort, um die Erzählung einer Familie aufzuzeichnen, die die Tragödie überlebt hat. In der mündlichen Tradition des indigenen Guatemalas müssen Dinge ausgesprochen werden, damit sie existieren. Wenn ein Neuankömmling in ein Dorf kommt, wird ihm erzählt, was an diesem Ort passiert ist, damit es nie vergessen geht. Besucher werden in die Intimität einer Geschichte geworfen, auch wenn sie oft gewalttätig ist. Die Zeugnisse haben mich zutiefst erschüttert und in mir den Wunsch geweckt, einen Film über sie zu drehen und damit die Vergangenheit Guatemalas aufzuarbeiten.»


Der Traum einer Nation


«Es gibt aber auch eine persönliche Perspektive für mich: Lange Zeit dachte ich, dass mein Vater, ein Guerillakämpfer auf dem Höhepunkt der Diktatur zwischen 1978 und 1984, zu den Verschwundenen gehört. Deshalb versammelte ich seine Freunde zu einem Abend der Erinnerung an meinen Vater und stellte fest, dass das, was meine Mutter mir erzählt hatte, und die Erinnerungen seiner Freunde nicht übereinstimmten. Ich dachte, dass meine Mutter mich angelogen hatte, und reimte mir eigene Geschichten zusammen: Dass sie festgenommen und vergewaltigt worden war, ich stellte mir das Leiden vor, das sie durchgemacht haben musste. Schliesslich konfrontierte ich sie damit, und es stellte sich heraus, dass ich die Frucht einer gewöhnlicheren Beziehung war, weniger gewalttätig, dennoch schmerzhaft, die mich auch prägte und definierte. Und so wollte ich in diesem Film den persönlichen und emotionalen Weg einer Figur erkunden, mit der ich mich identifizieren konnte.»

Eine zweite Schlüsselszene ist wohl die rasante Fahrt des Sohnes zu seiner Mutter ins Spital, nachdem er mit einer DNA-Analyse von seinem Ursprung überzeugt wurde. Die Vergangenheit Ernestos, Cristinas, Marias – und die Vergangenheit des ganzen Volkes muss offenbar werden!

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Auch andere Frauen fordern Aufklärung

Frauen als die Hüterinnen der Vergangenheit

«Sie halten das Land zusammen. Wenn sie loslassen, wird es auseinanderbrechen. Sie hüten die Erinnerung, den Alltag und die Bildung. Sie vermitteln Wissen, Bestand und Werte. In einer Diktatur werden normalerweise die Männer getötet und die Frauen missbraucht, dass Spuren übrig bleiben. Auch heute noch sind die Männer an der Macht, und die Frauen erleiden täglich Gewalt. Sie werden misshandelt, mehr in den Städten als auf dem Land. Es werden nur selten Anzeigen erstattet, denn das Patriarchat ist so tief verwurzelt, dass es keinen Platz für ein anderes System zulässt. Es wird Generationen dauern, bis sich das ändert.

Ich bin überwältigt von der Kraft der Überlebenden des guatemaltekischen Völkermordes. Wenn man hört, was diese Frauen durchgemacht haben, denkt man zwangsläufig, dass es ausreicht, den Lebenswillen einer/eines jeden zu brechen. Aber sie machten weiter. Das ist eine grosse Lektion fürs Leben.» Im Film stellt sich Cristina ihrer Vergangenheit, obwohl Vergewaltigung, wie sie sie in der Gefangenschaft erlitten hat, in ihrer Kultur schambehaftet ist; Ernesto setzt weiter Knochen zu immer neuen Skeletten zusammen und deutet damit an, dass die Zukunft sich erst bessert, wenn die Vergangenheit aufgearbeitet ist.

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Der Sohn konfrontiert die Mutter mit der Vergangenheit

Ein Film des Widerstands

Der formale Aufwand ist zurückgenommen, tritt in den Hintergrund vor der Aussagen der Frauen. Doch die Form transportier dezent und eindrücklich ihre Gefühle und Gedanken. Rémi Boubals Musik nimmt uns mit, Virginie Surdejs Bilder lassen uns im Dunkeln, Damien Maestraggis Montage rhythmisiert zwischen Bewegung und Stillstand, und César Díaz verwebt die Geschichten zwischen Individuum und Gesellschaft zu einer grossen Elegie. – Zu Recht wurde der Film 2019 in Cannes mit der Caméra d’Or als bester Erstlingsfilm ausgezeichnet.

Nachdem sich Ernesto und seine Mutter Cristina nah gekommen sind, gibt es einen Dialog, der schön ist wie ein Gedicht:
«Ernesto: Gleiche ich ihm? Habe ich seine Augen?
Cristina: Du hast seinen Blick.
Ernesto: Habe ich seinen Mund?
Cristina: Du sprichst wie er.
Ernesto: Bin ich wie er?
Cristina: Du hast seine Kraft.»
Und dann gibt sie dem ganzen Film mit einem ihrer letzten Sätze ein versöhnliches Ende:
«Ernesto, du bist das Schönste, was mir im Leben passiert ist.»

Interview mit César Díaz

Regie: César Diaz, Produktion: 2019, Länge: 77 min., Verleih: trigon-film