Ohne diese Welt

Eine wenig bekannte Religionsgemeinschaft: Der Dokumentarfilm «Ohne diese Welt» von Nora Fingscheidt beobachtet das Leben einer Mennonitengemeinschaft, einer leisen Gesellschaft zwischen Abschottung und Wandel. - Kinostart 13. Dezember 2018
Ohne diese Welt

Kinderreiche Familien

In einer vergessenen Region im heissen Norden Argentiniens leben etwa 700 deutschstämmige Mennoniten wie im 18. Jahrhundert, sogenannte Altkolonier, eine konservative Minderheit. Sie sprechen ein altes Plattdeutsch und betreiben Ackerbau und Viehzucht. Anstelle von Autos benutzen sie Pferdekutschen, ihre einzigen Schulbücher sind die Bibel und der Katechismus. Elektrizität, Telefon und Radio verbietet ihnen die Religion. Das Leben soll nicht bequem sein. Die Mennoniten leben in ihrer Kolonie möglichst fromm und hoffen, dass ihre Kinder auch in Zukunft dabei bleiben werden. Dem Einfluss der «Welt», so nennen sie alles ausserhalb, wollen sie sich weitestgehend entziehen. Deshalb kamen sie vor achtzehn Jahren aus Mexiko hierher. Ob es wirklich möglich ist, sich dem Fortschritt zu verweigern? Das thematisiert der Dokumentarfilm «Ohne diese Welt» von Nora Fingscheidt.

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Mütter frisieren ihre Mädchen

Vorbemerkung der Regisseurin

Meine erste Begegnung mit den Mennoniten liegt sechzehn Jahre zurück. Ich war damals Austauschschülerin in Argentinien. Die Mennoniten waren gerade erst dorthin gezogen und so wie ich noch fremd in diesem Land. Zufällig begegneten wir uns. Ich war irritiert von ihrer bizarren Erscheinung, aber auch neugierig. Obwohl wir einander kaum verstanden, erschien mir irgendetwas an ihnen seltsam vertraut. Über all die Jahre liessen mich die Fragen nicht mehr los: Warum leben diese Menschen freiwillig so? Warum lehnen sie unsere «Welt» so radikal ab und fliehen regelrecht vor der Moderne? Etwas daran gruselte, etwas faszinierte mich. Dieses Gefühl ist bis heute geblieben. Ich machte mich auf die Suche und fand anstatt einfacher Antworten eine Welt voller Widersprüche, und Bewohner, die mich zutiefst berührten. Zu unserer eigenen Überraschung bekamen wir als Filmteam die Erlaubnis, zwei Monate in einer Kolonie zu drehen, in der nicht einmal Handys erlaubt sind. Diese Zeit wurde zu einer nachhaltigen Erfahrung, die mich zum Nachdenken gebracht hat, nicht nur über die eine, auch über die andere Welt.

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Junge träumen schon mal von der andern «Welt»

«Weltmenschen» bei den Mennoniten

«Vor genau 10'057 Jahren begann das Leben auf der Erde, seitdem gibt es die Menschen.» Das glauben Altkolonier-Mennoniten. Die Zahl hat die Frau, die das sagte, mit Angaben aus dem Alten Testament errechnet. Ähnlich einfach und bestimmt lauten auch andere Antworten, wenn die Filmemacherin die Männer der Gemeinde befragte, während die Frauen meist schwiegen.

Zwischen Kühe melken und Schweine schlachten spielt sich wenig ab im Tagesritus jener evangelikalen Freikirchenmitglieder, deren Vorvorfahren vielfach die Länder wechseln mussten, einige davon jetzt in Brasilien leben. Darüber durfte Nora Fingscheidt mitsamt Technik, Mini-Team und eigenem Kind zwei Monate lang, aufgrund des überraschenden Segens des Gemeindeobersten, tatsächlich ihren Abschlussfilm an der Filmakademie realisieren. Nie zuvor hatten sich nämlich «Weltmenschen», also Nicht-Mennoniten, so lange innerhalb der Gemeinde aufhalten dürfen. Trotzdem sei ihr von manchen Familien bis zum Schluss offene Ablehnung entgegenbracht worden, erklärte sie, und es wollten nur wenige von ihnen vor die Kamera treten. «Ich sass anfangs manchmal eine halbe Stunde mit einigen von ihnen zusammen, und es fiel kein einziges Wort, obwohl wir noch nicht einmal die Kamera eingeschaltet hatten.» Auch sonst unterhalten sie sich nur selten. Weder wird beim Essen ausgiebig gesprochen, noch andauernd gebetet. In erster Linie schweigen sie oder zitieren Bibeltexte.

Entstanden ist ein schöner, respektvoller und überzeugender Dokumentarfilm, der verdientermassen den Max-Ophüls-Preis 2017 bekommen hat. Er ist ehrlich; Nora Fingscheidt zeigt, was zu sehen war, auch wenn die Bilder manchmal, des fehlenden elektrischen Lichtes wegen dunkel, sind. Er vermeidet Interpretationen, sondern beschreibt unvoreingenommen. Er rundet auch nicht künstlich ab, sondern bleibt fragmentarisch wie ein interessanter Torso. Er verzichtet auf Antworten, wo die Protagonisten keine geben.

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Die Alten sind am liebsten untereinander

Hintergrundinformationen

Die Mennoniten haben ihren Ursprung in der Täuferbewegung, die im sechzehnten Jahrhundert während der Reformationszeit entstand. Das Täufertum verbreitete sich von der Schweiz aus dem Rhein entlang bis nach Friesland. Der niederländisch-friesische Theologe Menno Simons (1496 – 1561) gab den Mennoniten ihren Namen. Sie verweigern die Kindertaufe und sind für eine Trennung von Kirche und Staat, weshalb sie immer wieder verfolgt wurden. Deshalb zogen sie sich in ländliche Gebiete zurück, zuerst nach Preussen, später nach Russland, wo ihnen Katharina die Grosse Asyl gewährte.

Sie lebten stets in einer gewissen Staats- und Weltferne, wurden aber als fleissige und friedliche Arbeiter geduldet. Ein wichtiges Prinzip bei ihnen ist bis heute die Gewaltfreiheit. Als in Russland der Militärdienst eingeführt wurde, emigrierte eine grosse Zahl nach Kanada. Als ihnen nach dem Ersten Weltkrieg die Privilegien der Freistellung vom Wehrdienst und der eigenen Schulen entzogen werden sollte, zog ein Teil von ihnen nach Mexiko weiter. Als viele Familien sich dort zu modernisieren begannen, kam es zu Auseinandersetzungen innerhalb der Gemeinden. Die Konservativsten, die sogenannten Altkolonier, gründeten ab den 1950er Jahren neue Kolonien in abgelegenen Gegenden. Sie zogen nach Argentinien, Bolivien und Paraguay, um fernab der «Welt» nach ihren Traditionen leben zu können. Zu ihnen gehören auch die Bewohner der im Film gezeigten Kolonie Durango.

Die gemeinsamen Überzeugungen aller Mennoniten sind, neben der Gewaltfreiheit, Sola Scriptura (die Bibel ist die höchste Autorität und alleinige Richtschnur für den Glauben und die Ausrichtung des Lebens), Solus Christus (allein durch Christus ist Gottes Heil den Menschen offenbart), Sola Gratia (geschieht durch die gnädige Zuwendung Gottes zu den Menschen und ist kein Verdienst, das sich Menschen durch Handlungen erworben haben) und Sola Fide (im Glauben allein ist dies zu erkennen und anzunehmen). Sie gelten als evangelische Freikirche und historische Friedenskirche. Nach Angaben ihrer Weltkonferenz leben heute insgesamt 1,3 Millionen Mennoniten in 65 Ländern, etwa 65.000 von ihnen als Altkolonier in Südamerika.

Regie: Nora Fingscheidt, Produktion: 2017, Länge: 115 min, Verleih: LookNow

Spezialvorstellungen
Zürich: 12. 12., 18.00 Uhr, Riffraff 3
Bern: 13. 12., 18.00 Uhr, CineMovie 2
Es diskutieren in Zürich: Nora Fingscheidt, Jürg Bräker, Konferenz der Mennoniten der Schweiz, Natalie
Fritz, Redakteurin beim Medientipp und Religionswissenschaftlerin, Moderation: Philippe Dätwyler, Publizist, Theolog, Religionsethnolog)
Es diskutieren in Bern: Nora Fingscheidt, Regisseurin, Jürg Bräker, Konferenz der Mennoniten der Schweiz, Riki Neufeld, Konferenz der Mennoniten der Schweiz, Jugendpastor, Margrit Ummel, Mennoniten-Gemeinde Sonnenberg/Pflegefachfrau, Moderation: Hans Hodel, Pfarrer und Religionspädagoge