Omar

Verliebt in Palästina: Den Palästinensern eine Stimme gibt Hany Abu-Assad mit dem Thriller «Omar», einer Liebesgeschichte und zugleich Innenschau des Nahostkonflikts zwischen Loyalität und Verrat.

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Scheue Liebesbezeugungen diesseits und jenseits der Mauer

Um zu seiner grossen Liebe Nadja zu gelangen, muss der junge Palästinenser Omar die Mauer, die hier Palästina von Palästina trennt, überwinden. Doch das schöne Leben auf beiden Seiten der Mauer dauert nur kurze Zeit. Eines Tages verübt Omar mit den zwei Freunden Amjad und Tarek einen Anschlag auf israelische Soldaten am Checkpoint Kalandia. Die Filmstory liefert dafür keine Gründe, das Wissen um die Situation im Land indes viele. Omar wird festgenommen und vor die Wahl gestellt, seine Freunde, einer davon ist Nadjas Bruder, zu verraten oder den Rest des Lebens im Gefängnis zu verbringen. So wird er zerrissen zwischen privatem Glück und politischer Realität.

«In der Regel liefert das reale Leben die spannendsten Geschichten. So war es auch mit „Omar“», meint der Regisseur Hany Abu-Assad. «Vor einigen Jahren war ich in Ramallah und trank Tee mit einem Freund. Dieser erzählte mir, dass er von einem Staatsagenten angesprochen wurde, der alles über ihn wusste. Der Agent versuchte anhand dieser Informationen meinen Freund dazu zu bewegen, zu kollaborieren. Dieses Thema wollte ich auf der Stelle vertiefen und darüber nachdenken, welche Konsequenzen eine solche Kollaboration auf die Liebes-, Freundes- und Vertrauensbeziehungen eines jeden hätte.» In diesem Film geht es also nicht um die Toten der Attentate, Kriege, Massaker oder gezielten Erschiessungen, sondern um das Leben darnach. Denn eine Okkupation hinterlässt nebst den Toten eine zerstörte Menschlichkeit und Zwischenmenschlichkeit bei den Besetzten wie den Besetzern: das Ende des gegenseitigen Vertrauens, des gemeinschaftlichen Zusammenlebens, der Wahrhaftigkeit und Treue und der Wertschätzung des Menschenlebens. Zurück bleiben Menschen voll Misstrauen, Lügen, Verrat und Kollaboration, was wieder neue Gewalt auslöst, neues Töten bringt. Solche Kollateralschäden sind bekannt, untersucht beim Vietnam- und beim Irak-Krieg. Vielleicht liegt hier ein Grund, dass jede Hoffnung auf Frieden im Heiligen Land oder im «verdammten Land», wie Andreas Altmann Palästina/Israel in seinem neuen Buch nennt, absurd ist.

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Über die Mauer zur Geliebten

Palästinenser von 2000, Israelis von 2014

Angesichts der palästinensischen Selbstkritik in «Omar» darf jedoch Kritik an der israelischen Seite nicht verschwiegen werden: völkerrechtlich illegal die mehr als sechzigjährige Besetzung Palästinas, der täglich wachsende Siedlungsbau, die Häuserzerstörungen und Landnahmen, die Apartheidsmauer auf Feindesland. Die Kenntnis dieser Fakten setzt der Film voraus. Die Verbrechen der Besatzungsmacht zeigt er lediglich in den Szenen, in welchen Omar nach dem Überklettern der Mauer von israelischen Soldaten gedemütigt und später im Gefängnis gefoltert wird.

Das Bild, das Abu-Assad von den Palästinensern zeigt, ist realistisch, wenn auch nicht aktuell, sondern aus der Zeit der Ersten und Zweiten Intifada, also zwischen 1997 und 2005. Seither gibt es solche Selbstmordanschläge der Palästinenser kaum mehr. Das Bild, das der Film von den Israelis zeigt, blendet alle zwischenzeitlich von den Neuen Historikern dokumentierten Verbrechen aus.

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Gewalt, die wirkt und neue Gewalt erzeugt

Der Regisseur Hany Abu-Assad …

Hany Abu-Assad ist 1961 in Nazareth geboren, 1980 nach Holland ausgewandert, arbeitete als Flugzeugingenieur, bevor er sich dem Film zuwandte. 2002 fiel er mit seinem ersten Film über sein Land, «Rana‘s Wedding», einer Tragikomödie über eine Hochzeit diesseits und jenseits der Checkpoints, international auf. Kontrovers aufgenommen wurde 2005 sein nächster Spielfilm zum Thema, «Paradise Now», der die Geschichte zweier palästinensischer Jugendfreunde erzählt, die beauftragt werden, in Tel Aviv ein Selbstmordattentat zu verüben. Damit untersucht er die psychologische und moralische Dynamik einer solchen Tat und führt zu «Omar», seinem dritten Film über den Nahen Osten, der in Nablus, Nazareth und Bisan von einer palästinensischen Crew realisiert und erstmals ausschliesslich mit palästinensischem Geld finanziert wird.

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Ein Drama, das im Äusseren und im Inneren spielt

… und seine Absichten mit dem Film

«Das Hauptthema des Films ist das Vertrauen, die Wichtigkeit, die es in den menschlichen Beziehungen hat und wie flüchtig es sein kann. Vertrauen ist das Fundament der Liebe, Freundschaft und Loyalität. (…) Ich möchte menschliche Erfahrungen analysieren (…). Mein Drang, die Komplexität menschlicher Emotionen zu ergründen ist endlos und unzerstörbar.» Soweit der Regisseur, der sich weiter erklärt: «Ich würde niemals einen Film machen, der die Menschen nur verurteilt oder verteidigt. Ich überlasse dies den Justizbehörden. Mich interessiert die menschliche Seite der Freiheitskämpfer und deren Charaktere im Allgemeinen. (…) Ich möchte dieses Phänomen so ehrlich wie möglich, in allen seinen Graustufen zeigen.»

Abschliessend meint Abu-Assad: «Ich denke, dass gute Filme Figuren mit spezifischen Charakterzügen präsentieren, deren Motivationen zeitlos und universell sind. Sollte meine Arbeit einen Einfluss auf gewisse Einsichten des Zuschauers haben, dann ist dies ein Nebeneffekt. (…) Man hat mich gelobt und kritisiert, weil ich den Palästinenser eine Stimme gebe, was weder ein künstlerischer Kommentar noch eine Filmkritik ist. Dies ist ein politischer Kommentar und somit eine völlig andere Kritik.»

Für mich ist es angesichts der Wirkungslosigkeit der immer wieder neu angekündigten «Friedensgespräche» verständlich und sinnvoll, dass ein palästinensischer Regisseur wie Hany Abu-Assad eine kritische und selbstkritische Innenansicht des Nahostkonflikts realisiert und uns zur Diskussion anbietet.

Ergänzung zu «Omar»: Aus einem Newsletter aus Palästina

In einem Newsletter aus Palästina, den ich am 4. Mai 2014, also genau am Tage meiner ersten Visionierung von «Omar», erhalten habe, findet sich folgende UN-Meldung:

Zum «Scheitern» der sogenannten Friedensverhandlungen in den vergangenen neun Monaten, vom 30. Juli 2013 – 29. April 2014

Als Bruch der Abmachungen wirft Israel den Palästinensern vor, 63 Anträge bei UN-Organisationen gestellt zu haben. An ihre Abmachung gegenüber Israel hat sich die Palästinensische Autonomie bis gestern gehalten. Doch was soll sie angesichts der folgenden Vertragsbrüche sonst tun?

Calendar of Israeli Violations During the Nine Months Negotations Period

Killings

6

3

8

11

8

7

4

13

1

61

Injuries

77

77

169

63

148

105

108

166

141

1054

Military Attacks

193

193

275

213

285

227

333

278

344

2341

Arrests

277

432

362

428

333

529

458

547

308

3674

Settler Violence

48

81

102

87

44

91

69

87

66

675

Attacks on Property

85

142

113

80

67

132

128

142

110

999

Z. B. hat Israel laut UN dazu

  • 14.000 neue Siedlungshäuser in Palästina genehmigt und z. T. gebaut. Laut internationalem Recht ist jedes davon illegal. Das entspricht einer Zahl von über 55.000 neuen Siedlern.
  • 508 Häuser wurden von israelischem Militär durch seine Bulldozer in Ostjerusalem und der Westbank zerstört, davon 308 Wohnhäuser. 878 Familienangehörige wurden dadurch obdachlos.

Regie: Hany Abu-Assad
Produktionsjahr: 2013
Länge: 96 min
Verleih: www.cineworx.ch