On Body and Soul

Zwischen Tag und Traum: Die ungarische Regisseurin Ildikó Enyedi erzählt in «On Body and Soul» die aussergewöhnliche Liebesgeschichte zweier sensibler Seelen, mit wunderbar komponierten Bildern und feinem Humor.
On Body and Soul

Endre und Maria träumen nachts denselben Traum

Maria, die neue Qualitätskontrolleurin am Schlachthof, wird von allen kritisch betrachtet. Sie bewegt sich seltsam, fast roboterhaft, ist einsilbig und meidet Kontakte. Endre, der Direktor des Schlachthofs, ist an dieser attraktiven, aber eigenartigen jungen Frau interessiert, ohne zu wissen warum. Seine Versuche, sie kennenzulernen, bleiben lange erfolglos.

Nach einem Diebstahl befragt eine Psychologin die Mitarbeitenden und stellt etwas Seltsames fest: Endre und Maria hatten in der Nacht zuvor denselben Traum. Darin streifen sie als Hirsch und Hirschkuh friedlich durch einen verschneiten Wald, zärtlich und in inniger Harmonie miteinander und im Einklang mit der Natur. Endre versucht das als Zufall herunterzuspielen, doch er ist, wie auch Maria, aufgewühlt. In der nächsten Nacht haben sie wieder denselben Traum. Sie beginnen, ihre nächtlichen Erlebnisse aufzuschreiben und auszutauschen. Denn beide wünschen sich die Zuneigung und Nähe, die sie in ihren Träumen füreinander empfinden. Vorsichtig versuchen sie, sich auch in der Realität näherzukommen.

Endre hat mit der Liebe abgeschlossen und sich nach vielen Enttäuschungen in ein einsames, tristes, aber risikofreies Leben zurückgezogen, ist verschlossen und hat Angst vor Zurückweisung. Auf keinen Fall möchte sich der alternde Mann mit dem gelähmten Arm vor einer jungen Frau lächerlich machen. Maria leidet unter einem Ordnungszwang, räumt nicht nur jeden Krümel vom Tisch, sondern merkt sich auch jeden Satz, jedes Ereignis und sortiert alles in ihrem phänomenalen Gedächtnis. Menschen passen nicht in ihre Ordnung. Sie hat Angst vor Begegnungen, vor allem Berührungen. Dennoch treffen sich die beiden immer wieder, gehen miteinander essen, versuchen sogar, nebeneinander einzuschlafen, um sich nicht nur im Traum nahe zu sein. Wirkung zeigen bei Maria allerdings erst die Ratschläge ihres alten Kinderpsychologen. Sie findet ein Lied, «What He Wrote» von Laura Marling, das ihre Seele öffnet. Intensiv trainiert sie, Berührungen zu ertragen und baut ihre inneren Widerstände weiter ab. Doch als sie bereit ist, sich Endre zu öffnen, nimmt ihre zarte Beziehung eine neue, dramatische Wendung. Siehe das Lied.

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Ein Hirsch und eine Hirschkuh bilden den Inhalt ihrer Träume

Kommentare der Regisseurin Ildikó Enyedi – und Anmerkungen dazu

Was die Regisseurin zu ihrem Film geschrieben hat, ist kompetent und tiefsinnig, dass ich ihr hier gerne das Wort gebe (kursiv), ergänzt mit meinen Anmerkungen. Ihr integraler Kommentar findet sich im Anhang als PDF.

«On Body and Soul» fällt wohl als Erstes durch seine hoch ästhetische Bildgestaltung (Kamera Máté Herbai) auf. Mit Schärfe-Unschärfe-Wechseln, Doppelbildern, ergänzt durch sphärische Musik (Ádám Balázs) und kühne Montage (Károly Szalai). Das «Schöne» steht hier für das «Gute» und «Wahre», wie es Ildikó Enyedi wohl als Bild der Welt und des Menschen vorschwebt – im Sinne der Scholastik, welches dem Sein das Gute, das Wahre und das Schöne zuordnet. Etwas verkürzt beschreibt «Der Spiegel Online» den Film in diesem Sinn: «Ein sensibel und fantasievoll erzählter Film über die Mühsal, sich anderen Menschen zu öffnen, und die Schönheit, wenn es gelingt».

Conditio humana

In all meinen Projekten kommt die Geschichte als allerletztes. Dieser Film begann, wie alle meine anderen Filme, mit dem Wunsch, meine Sicht auf die «Conditio humana», die menschliche Natur und die Bedingungen des Menschseins zu teilen, auf die Art und Weise, wie wir unser Leben leben. Ausserdem wollte ich von Anfang an eine überwältigende, leidenschaftliche Liebesgeschichte erzählen, auf so wenig überwältigende und leidenschaftliche Weise wie möglich.

Ich bin ein eher zurückgezogener Mensch, und deshalb weiss ich, was sich unter einer ruhigen, grauen Oberfläche verbergen kann. Wie viel Schmerz, Verlangen oder Leidenschaft, der Heroismus des Alltags. Wenn ich die Strasse entlanggehe und in die Gesichter der Menschen sehe, weiss ich: Selbst hinter dem langweiligsten, einfältigsten, plumpsten Gesicht kann sich Erstaunliches verbergen. Deshalb wollte ich irgendwie dieses Gefühl vermitteln: nichts an der Oberfläche, sondern im Inneren.

So nah wie hier sind im Kino nur selten die Erfahrung der Regie und die Erfahrung der Darsteller. Die damit gewonnene Authentizität erreicht die Zuschauer, die anfänglich vielleicht durch die Radikalität der Gestaltung verunsichert waren. Die «Berliner Zeitung» meint deshalb: «Ein zartes Meisterwerk, das eine Liebesgeschichte nicht nur erzählt, sondern sinnlich erfahrbar macht», und der «Rundfunk Berlin Brandenburg»: «Ein Film für alle, die noch an die Liebe als Seelenverwandtschaft glauben».

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Maria und Endre, die sich näher kommen möchten

Antriebe, Situationen und Fragen

Die zentrale Idee für die Storyline kam in einem einzigen Moment: Wie wäre es, jemandem zu begegnen, der nachts dasselbe träumt wie man selbst? Wie würde man reagieren? Wäre man begeistert? Würde man Angst bekommen? Oder es lustig finden? Oder ziemlich aufdringlich? Oder vielleicht romantisch?

Situationen, die als Antriebe wirken, sind das Beste für einen Film. Situationen, die Fragen aufwerfen, auf die man unbedingt eine Antwort erhalten möchte, die dann wieder neue Fragen aufwirft. Wenn man den Schock erstmals überwunden hat, was würde man mit den neuen Erkenntnissen anfangen? Würde man sein Herz dieser anderen Person öffnen? Aber was, wenn man überhaupt kein romantischer Mensch ist? Wenn man bei jedem Gedanken an esoterischen Mist erschaudert?

Wie wäre es für jemanden, der sich schwertut, mit seinen Gefühlen umzugehen? Wie würde man dem Fremden begegnen, mit dem man in der Nacht zuvor zarte Träume geteilt hat? Würde man tagsüber dieselbe Nähe und Zuneigung herzustellen versuchen? Was wäre, wenn das überhaupt nicht funktionieren würde? Wenn man noch nicht mal die erste missratene Verabredung halbwegs überstehen würde? Und die zweite Verabredung eine Katastrophe würde? Und die dritte besonders erbärmlich? Würde man dann aufgeben? Und wenn man aufgäbe, würde man das aushalten? Könnte man mit dem Wissen leben, dass die Person, die einem nachts ein Seelenverwandter ist, tagsüber fremd bleibt? Würde man da nicht einfach sterben? Diese Fragen führen uns durch den Film bis zum letzten Moment, denn selbst da gibt es noch eine Frage, auf die man wartet.

Mit dieser Aufzählung möglicher Fragen begleitet Ildikó Enyedi die inneren und äusseren Monologe und Dialoge von Maria und Endre. Sind das nicht, drängt sich einem die Frage auf, die unzähligen, minutiös beschriebenen Schritte, die bei jeder Annäherung von zwei Menschen gegangen werden? Und das kann einen tief treffen, traurig oder glücklich machen. «Eine magische Geschichte, die glücklich macht», titelt deshalb «Die Welt» ihre Besprechung.

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Endre und Maria, noch immer weit auseinander

Verwundet am modernen Arbeitsplatz

Der Schlachthof im Film ist kein archaisches, blutgetränktes Schlachthaus. Er ist ein ordentlicher, wohlorganisierter moderner Arbeitsplatz, an dem gewissenhaft alle Vorschriften eingehalten werden. Er ist der Spiegel unserer westlichen Gesellschaft. Seitdem wir die tröstenden, stützenden Rituale der Religion verloren haben (zumindest die meisten von uns), sind wir ratlos, wie wir mit den wichtigsten Momenten unseres Lebens umgehen sollen: Geburt, Liebe und Tod. Das Ritual, das Wissen, dass man einen heiligen Moment erlebt, hat früher geholfen, diese Momente zur Gänze auszuleben. Seit dieses solide Gerüst verloren gegangen ist, versucht die Gesellschaft mit diesen Momenten auf praktische Weise umzugehen. Das verwandelt einen selbst in ein Objekt, und es verwandelt geliebte Menschen in Objekte.

Meine beiden Helden, Endre und Maria, sind nicht nur introvertiert. Sie sind Verwundete. Ihre Handicaps sind Ausdruck ihrer inneren, mentalen Gesundheit. Sie reagieren auf ihre Umwelt (und damit meine ich nicht den Schlachthof, sondern die Gesellschaft im Allgemeinen), die nicht für sie gemacht ist, oder für irgendjemand anderen.

Völlig unerwartet in diesem Liebesfilm ist wohl der Ort der Handlung: ein Schlachthaus, das so unmenschlich ist, wie es menschlich sein kann: ein Ort, wo aus Tieren Dinge, übertragen und verallgemeinert, wo aus Menschen Dinge werden – ein Prozess, der vieles in unserer Gesellschaft auf den Punkt bringt. Doch auch die Umkehrung stimmt, dafür steht wie ein Fanal dieser Film: Wo im weitesten Sinn aus behinderten, allzu menschlichen Menschen liebende, also menschliche Menschen werden. In diesem Sinne empfinde ich «On Body and Soul» als ein tief humanistisches Werk.

 ildiko Enyedi
Ildikó Enyedi an der Berlinale 2017: Gewinnerin des Goldenen Bären, des Preises der ökumenischen Jury und des Kritikerpreises

Kommentar von Ildikó Enyedi, Regisseurin von «On Body and Soul»

Regie: Ildikó Enyedi, Produktion: 2017, Länge: 116 min, Verleih: Filmcoopi