Ostrov – Die verlorene Insel

Was ist der Mensch? Was ist das Leben? Svetlana Rodina und Laurent Stoop schufen mit «Ostrov – Die verlorene Insel» einen Film über ein Russland, das wir kaum kennen, und über den Menschen und das Leben, die wir noch weniger kennen. Ein Dokumentarfilm, der absolut verdient wahrgenommen zu werden.
Ostrov – Die verlorene Insel

Fischen zum Überleben

Früher lebten dreitausend Menschen auf der Insel, heute sind es noch fünfzig. Hier gibt es weder Gas noch Strom, weder legale Arbeitsplätze noch Ärzte oder Polizisten. Für Iwan (50), den eigensinnigen Nachfahren einer Fischerdynastie, gibt es nur eine Art, für seine Familie aufzukommen: den illegalen Fischfang. Obwohl er wegen Wilderei verurteilt wurde, fährt er weiter aufs Meer hinaus. Er hat keine Wahl, entweder fischen oder verhungern. Manchmal schaltet er den Generator ein, sieht die Propaganda im staatlichen Fernsehen und glaubt an Putin und die Grossmacht Russland. Sein Stolz auf sein Heimatland entschädigt ihn für das Elend des Alltags. Anna (45) hat in ihrer Jugend in der Stadt gelebt und studiert, sich dann in Iwan verliebt und das harte Leben auf der Insel gewählt. Beide wollen, dass ihre Kinder, Anton (19) und Alina (17), eine bessere Zukunft haben. Seit einiger Zeit fährt auch sein Sohn mit seinem Cousin Roman aufs Meer.

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Vater Iwan

Zum Hintergrund

Weil die Welt von «Ostrov» so weit weg ist, können Informationen helfen, sie besser zu verstehen; ich gebe deshalb nachfolgend Svetlana Rodina und Laurent Stoop, den Schöpfern des Films, das Wort. Die beiden arbeiteten an ihrem ersten Kinodokumentarfilm ab anfangs 2018. Mit «Ostrov – Die verlorene Insel» porträtieren sie den alltäglichen Kampf ums Überleben der Bewohner einer der vergessenen Inseln Russlands. Der Film ermöglicht nicht nur ein besseres Verständnis der politischen Prozesse in Russland, sondern lädt auch ein zu einer tieferen universellen Sehnsucht: dem Wunsch, in der Heimat zu bleiben, auch wenn das Leben dort unmöglich erscheint. Ebenso bietet er eine einzigartige Perspektive darauf, wie Menschen in einem korrupten System Propaganda erleben. Neben dem politischen Aspekt zeichnet er mit seinem einfühlsamen Blick auch ein berührendes Familienporträt mit Protagonisten, die an einem Gefühl der Hoffnung und an ihrer familiären Gemeinschaft festhalten. Die brillante Gestaltung, mit der die raue, natürliche Schönheit der Insel eingefangen wird, macht den Film zu einem eindrücklichen Kinoerlebnis.

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Mutter Anna

Anmerkungen von Svetlana Rodina zum Film

 

Am Anfang war ein Foto, das mich mit seiner melancholischen Schönheit faszinierte: die Ruinen eines alten Tempels im Nebel, ein verlassenes Ufer, ein einsames Boot. Man sagte mir, es gebe eine Insel im Kaspischen Meer, und auf ihr ein Dorf. Das Bild war nicht das eines alten Tempels, sondern zeigte das sowjetische Kulturhaus, das in den 90er Jahren gesprengt wurde. Die Behörden haben die Insel und das Dorf inzwischen vergessen, aber noch heute leben dort, trotz der schwierigen Umstände, Menschen. Seitdem wollte ich die Insel besuchen und ihre Bewohner kennenlernen und verstehen, was die verlassene Insel für diese Menschen bedeutet: Freiheit oder ein Gefängnis?

Diese Frage wurde für mich relevant, nachdem ich von Russland in meine neue Heimat, die Schweiz, ausgewandert war. Seitdem bin ich nicht nur eine Russin, sondern eine «Weltbürgerin» geworden. In der Zwischenzeit hat sich Russland immer mehr von der Aussenwelt abgeschottet. Das Land ist selbst zu einer riesigen, bizarren und geheimnisvollen Insel geworden und in seiner eigenen, imaginären Welt versunken. Seine Gesetze lassen sich nicht durch Politik oder Wirtschaft erklären, zumindest nicht aus westlicher Sicht.

Um die Welt auf der Insel Ostrov zu verstehen, verbrachten wir viel Zeit mit Iwan und seiner Familie. Diesem gewöhnlichen Fischer, der in seinem Schicksal gefangen ist, der aber nicht vergessen hat, wie man liebt, träumt und glaubt. Er ist ein Held, einer Shakespeare-Tragödie würdig, ein autodidaktischer Philosoph auf der Suche nach einem Glauben in einer Welt, in der Gott tot ist. Deshalb glaubt Iwan an Putin, die grosse Vergangenheit, die grosse Nation Russland. Sein Glaube, der sich aller Logik widersetzt, lässt ihn die Härten des Lebens vergessen, ist die Quelle seiner inneren Stärke und unausweichlichen Tragödie.

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Sohn Anton

Anmerkungen von Laurent Stoop

 

Als ich 2015 nach Russland zurückkehrte, um mich wieder dort niederzulassen, fiel mir eines sofort auf: Die Selbstwahrnehmung der Russen hatte sich völlig verändert. Der Hauch des Wandels und der demokratischen Energie der 1990er Jahre war einer neuen unsichtbaren ideologischen und psychologischen Mauer gewichen, die zwischen Westeuropa und Russland errichtet wurde. Was ist geschehen? Wie können wir über diese Kluft in der Wahrnehmung sprechen, die auf beiden Seiten durch ungezügelte Propaganda voller Klischees und Unausgesprochenem genährt wird?

Wie so oft in Russland begann alles in der Küche unserer Moskauer Wohnung mit der Entdeckung einiger Bilder eines Ortes, der vielen anderen in Russland gleicht. Ostrov ist eine Welt am Ende des Weges, in der die Verwaltung und ihre Dienste verschwunden sind, wie in Tausenden anderer russischer Dörfer, die von der Landkarte und aus den Statistiken entfernt sind. Die Einwohner von Ostrov erinnern sich an die glorreiche sowjetische Vergangenheit, aber diese Vergangenheit ist nur noch ein Hirngespinst, in Fetzen und für immer verloren. Die Gegenwart besteht aus einem täglichen Kampf ums Überleben. Die Zukunft ist ungewiss, aber die Inselbewohner haben noch einen Hoffnungsschimmer: Sie glauben, dass es im heutigen Russland eine Person gibt, die den Verdammten und Vergessenen tatsächlich helfen kann, aus dieser gesetzlosen und prekären Situation herauszukommen. Vorausgesetzt, ihr Schicksal wird ihm, dem russische Präsident Wladimir Wladimirowitsch Putin, endlich zur Kenntnis gebracht.

An diesem Punkt betreten wir die mehr metaphysische als rationale Dimension der russischen Seele. Was uns Westlern unlogisch oder unmöglich erscheint, ist es für die Bewohner von Ostrov nicht unbedingt. In einem System, in dem die Gesetze nicht wirklich definiert sind, zeigen die Bewohner einen aussergewöhnlichen Erfindungsreichtum, um zu überleben. «Ostrov – Die verlorene Insel» will dieser schweigenden Mehrheit der Russen eine Stimme geben. Sie halten sich an die wiederauferstandenen neo-sowjetischen Werte und träumen von einem Russland, das wieder eine respektierte und gefürchtete Supermacht ist, auch wenn das bedeutet, isoliert und von Feinden umgeben zu sein. Ostrov ist eine Metapher für das Russland von heute.

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Tochter Alina mit Anna

«Ostrov» erinnert an Freiheit und Gefängnis, Trauer und Hoffnung.

 

Der Film erzählt seine Geschichte in etwa zwölf Kapiteln – in höchster Perfektion und Brillanz des Drehbuches und der Regie, des Schnitts und der Musik: Ausfahrt zum Fischen, trotz Verbot durch die Küstenwache / Geburtstagsfeier von Anna / Hausdurchsuchung durch Bundessicherheitsdienst / Liebesgeschichte zwischen einer Muslimin und dem Cousin / Geschichtsunterricht über den 2. Weltkrieg / Nationalfeiertag im Dorf und am Fernsehen / Die andere Musik der Jungen / Tod des Grossvaters / Anna trinkt und weint, weil sie sonst verzweifeln müsste / Ein Heuschreckenschwarm überfällt das Land / Abschied von Anton, der zum Militär geht / Iwan und Alina schreiben Putin einen Brief / Silvesterfeier in der Familie und am Fernsehen mit Putin.

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Eine Siedlung, die für alle Siedlungen steht

«Ostrov – Die verlorene Insel» erinnert an Pudowkin und Tarkowski, Calderon und Chaplin

 

Die Kapitel sind kunstvoll verwoben mit Bildern und Szenen aus dem Alltag, der Arbeit, der Freizeit, den Pferden und den Landschaften, die einen verweilen und nachsinnen lassen. Und dies führt uns über die Geschichte hinaus, von Ostrov ins Allgemeingültige. – Erinnerungen an Pudowkin und Tarkowski, Calderon und Chaplin können auftauchen und uns Fragen stellen.

Was ist der Mensch? Was ist das Leben? Der Mensch als Geworfener? Das Leben als Schicksal? Solches kann bei uns ankommen, wenn wir in die Hütten eingetreten sind und den Alten, Jungen, Männern und Frau von Ostrov zugehört und zugeschaut haben. Jetzt kippen Realismus und Kritik in Surrealismus und ein tiefes Verstehen der Welt und des Menschen. – Wir erinnern uns vielleicht an Calderons «Welttheater», Dantes «Comedia», Tarkowkis «Stalker» oder an Fellini, Buñuel oder Bergman.

«Ostrov – Die verlorene Insel» ist ein verdienter Anwärter für einen Oscar 2022.

Regie: Svetlana Rodina und Laurent Stoop, Produktion: 2021, Länge: 92 min, Verleih: Royal Film