Party Girl

Geschichte aus dem Milieu: Mit 60 versucht Angélique aus dem Milieu auszusteigen und ein anderes Leben zu beginnen, was der Dokumentarfilm «Party Girl» feinsinnig und berührend schildert.
Party Girl

Angélique und Michel als Liebespaar

Ihr Leben lang tanzte die heute 60-jährige Angélique durch die Nächte. Immer noch glaubt sie an die Liebe, geniesst die Männer und das Milieu. Jetzt aber will sie versuchen, alles besser zu machen. In Cannes ausgezeichnet, erzählt der Dokumentarfilm «Party Girl» von den Hochzeitsvorbereitungen, in die Angélique sich und ihre Kinder stürzt, nachdem ein langjähriger Kunde um ihre Hand angehalten hat. Sie und ihre Familie spielen sich selbst offen und ehrlich. Am Rande der Gesellschaft, in Lothringen an der deutsch-französischen Grenze, erleben wir privates Kino, das mehr ist als das.

«Party Girl» beschreibt mit Einfühlungsvermögen die Feinheiten, Widersprüche und Doppelbödigkeit ein besonderes Auf-dem-Weg-Sein. Die mit der Handkamera und Spontaneität festgehaltenen Aufnahmen schaffen Nähe und Intimität. Die Offenheit der Beteiligten, von Angélique, ihren vier Kindern, von Michel und den Damen aus dem Milieu, schafft Authentizität. Eigentlich war es ein gewagtes Unternehmen, über den besonderen Lebensabschnitt dieses «Papillon de nuit» einen Film zu drehen: vom «Cabaret Eve» bis zum Traualtar und weiter … Die Geschichte wirkt glaubwürdig und beeindruckt. Wie viel dabei dokumentarisch beschrieben, wie viel fiktional inszeniert ist, bleibt offen. Angélique Litzenburger und ihre Kinder spielen ihr Leben! Den Inhalt möchte ich nicht verraten. Doch lohnt es sich, nach meiner Meinung, in diesem unterhaltenden und dennoch hintergründigen Film genau hinzuschauen, hinzuhören, hinzufühlen, hinzudenken, was Angélique, Michel (Joseph Bour), die Kinder Mario, Samuel, Séverine und vor allem Cynthia sprechen, denken, sinnieren und schweigen – und dabei zu beobachten, wie das im Milieu kommentiert wird und was man der Protagonistin zu ihrem Unternehmen rät.

party girl mit kolleginnen

Das Umfeld der Protagonistin

Vorbemerkungen der Filmschaffenden

Marie Amachoukeli, Claire Burger und Samuel Theis bilden das Trio, das «Party Girl» in Szene gesetzt hat, Angéliques Sohn Sam hat das Drehbuch geschrieben und den Film ko-produziert. Ihre Anmerkungen:

«Als Ausgangspunkt diente ein wahres Ereignis, nämlich die bereits ein paar Jahre zurückliegende, aussergewöhnliche Heirat von Angélique. Mit fast 60 Jahren warf diese geplante Verbindung doch einige Fragen auf. Sie wirkte wie eine Art Bilanz einer Frau, welche bis anhin nur das Nachtleben gekannt hatte und sich spät dann entschliesst, ihr Leben zu ordnen.»

«Angélique ist nicht nur Mutter, sondern auch Animierdame und Verführerin. Angélique verkörpert in jeder Szene genau das, was ihr Leben ausmacht. Daher wirkt die Figur auch irritierend. Gleichzeitig musste diese starke Seite ihrer Persönlichkeit im Zaum gehalten werden, um dem Zuschauer die Figur zugänglicher zu machen. Es mussten Kinocharaktere geschaffen werden, die es dem Zuschauer erlauben, sich mit einer Situation oder einer Person des Films zu identifizieren. Während man einerseits gewisse Aspekte nicht verfälschen durfte, mussten andere stilisiert werden. Bei Angélique gingen wir von ihrer wahren Persönlichkeit aus. Ihr überschäumendes Temperament, das wir so lieben, musste dabei teilweise sogar unterdrückt werden. Es ging darum, eine Filmfigur zu schaffen, ohne die reale Person dabei zu verraten. Durch sie sollten die Themen der Liebe, Familie und der persönlichen Freiheit hinterfragt werden. Ist Angélique frei oder egoistisch, spontan oder inkonsequent, grosszügig oder verantwortungslos?»

«Angélique hatte den Mut, vollumfänglich zu dieser Figur zu stehen. Sie wollte von Anfang an, seit der Entstehung des Drehbuchs, nichts verschleiern. Auch nicht die teilweise doch schwierigen Themen, die wir im Film erarbeiteten, wie z. B. ihr Leben ausserhalb der gesellschaftlichen Norm, die Beziehung zu ihren Kindern und diejenige zu den Männern. Ihre Biographie, geprägt vom Nachtleben, von Partys und Alkohol, bleibt geheimnisvoll. Wir haben versucht, etwas von diesem Geheimnis einzufangen. Sie war bereit, sich dafür zu öffnen und uns Zutritt zu gewähren zu ihrem Privat- und Innenleben.»

party girl mit angelique 

Cynthia findet ihre Mutter Angélique

Nachbemerkungen: ein anderes Bild des Milieus

Was «Party Girl» in meinen Augen wertvoll macht, ist die Tatsache, dass hier das Milieu einmal von einer anderen Seite gezeigt wird, als wir es – im Gegensatz zu Klassikern der siebenten Kunst – vor allem in den letzten Jahren im Kino und Fernsehen vorgesetzt bekommen. Unbestritten gibt es die schwarze, brutale, menschenverachtende Seite der Prostitution, und sie soll auch gezeigt werden. Doch käufliche Liebe gab und gibt es auch ohne physische und psychische Gewalt in den Freiräumen zwischenmenschlicher Intimität und Sexualität. Das Thema muss immer wieder neu hinterfragt werden, wozu der nachfolgende kleine historische Exkurs dienen soll:

Schon die Bibel erzählt von Prostitution und Tempelprostitution in der Antike. Herodot, Pindar und andere berichten darüber. Bei Feiern, Theateraufführungen und Empfängen, vor allem kirchlicher Würdenträger im Mittelalter, holte man für die abwesenden Frauen Kurtisanen, so 1417 ans Konzil von Konstanz 700 Dirnen für die hohe Geistlichkeit. In der Renaissance gab es in ganz Europa neben einer künstlerischen Blütezeit auch eine solche der Kursisanen. Um bei der Hochkultur zu bleiben: Wie sähen die Weltliteratur, wie die Geschichten der grossen Opern wohl aus ohne die Maitressen? Die bekannte, doch etwas provokative Aufforderung, die bürgerliche Ehe mit der Prostitution zu vergleichen, soll hier nicht ausgeführt, bloss angetönt werden.

Die gesellschaftliche Bewertung der käuflichen Liebe ist zeitlich und regional sehr unterschiedlich, unterliegt einem ständigen Wandel und wird von religiösen Vorstellungen beeinflusst. In der Prostitution Tätige gehören zu einer sozialen Gruppe, die bis heute von Diskriminierung, Stigmatisierung und Verfolgung bedroht ist. Über Jahrhunderte sind sie Spielball von systematischen Anfeindungen, bis hin zur Kasernierung, Deportation und Ermordung. Waren sie über die Jahrhunderte per se als Kriminelle oder Opfer abgestempelt, findet seit Ende des 19. Jahrhunderts ein Wandel in der Rezeption dieser Frauen statt. Zeitgenössische Prostitutions- und Menschenrechtsverbände wehren sich gegen Kategorisierungen und fordern eine sachliche Betrachtung und rechtliche Anerkennung als Arbeit. Die Diskussion darüber wird wohl auch heute und morgen kontrovers geführt. Vielleicht kann auch ein Film wie «Party Girl» dazu einen Beitrag leisten.

party girl angelique

Angélique Litzenburger erzählt aus ihrem Leben

Regie: Marie Amachoukeli, Claire Burger und Samuel Theis, Produktion: 2014, Länge: 95 min, Verleih: First Hand Films