Passion

Zwischen Revolte und Resignation: Mit seinem Film-Essay «Passion» macht Christian Labhart eine Reise durch den Superkapitalismus mit seinen pervertierten Bedürfnissen und zerstörten Lebensräumen: persönlich, gesamtgesellschaftlich, ehrlich.
Passion

Einsam und sinnlos im Kapitalismus

Die starken und herausfordernden Bilder des Films «Passion – zwischen Revolte und Resignation» des Schweizer Dokumentaristen Christian Labhart ergänzen Texte von Franz Kafka, Bertolt Brecht, Slavoj Zizek, Ulrike Meinhof, Dorothee Sölle sowie Einspielungen der Matthäus Passion von J. S. Bach, welche die individuellen Verhältnisse von hier und jetzt in einen zeitlosen und allgemeingültigen grösseren Zusammenhang stellen. Sie versuchen zu ergründen, was die Welt im Innersten zusammenhält.

Die Episoden aus dem Leben des Autors, denen wir chronologisch folgen, sind verknüpft mit den weltgeschichtlichen Ereignissen, das Private mit dem Politischen, das Politische mit dem Privaten. (Siehe dazu die «Auszüge aus der privaten und öffentlichen Timeline von Christian Labhart» im Anhang.) Sie schildern die Sicht auf die Welt ab 1968, dem Jahr des Beginns der letzten politischen Bewegung des letzten Jahrhunderts und endet 2018. Erlebbar wird die Gefühlslage der Menschen, wie sie sich in den fünfzig Jahren entwickelt und verändert hat. Labhart überwindet damit die herkömmliche filmische Erzählweise mit symbolstarken Sinnbildern. Entstanden ist ein Essay über den Umgang mit den subjektiv erlebten hoffnungsvollen oder verzweifelten, revoltierenden oder resignierenden Gedanken und Gefühlen: ein Film, der die Mechanismen eines entfesselten Kapitalismus denunziert und immer wieder die Frage stellt, ob ein richtiges Leben im falschen möglich ist – erlebt und erlitten von Christian Labhart.

Weiter und weiter sterben Flüchtlinge im Mittelmeer

Für Alt-68er und deren Nachgeborene

Wer heute etwa zwischen 65 und 75 ist und seine Jugend vornehmlich in einer Stadt verbracht hat, wird sich in «Passion zwischen Revolte und Resignation» in irgend einer Rolle wiederfinden: als Beteiligter oder Beobachter von Erlebtem oder Verpasstem. Vielleicht tauchen einem beim Sehen auch Menschen auf, die man damals gekannt, geliebt oder gehasst hat. Das alles kann «Passion» auslösen und ist deshalb auf verschiedene Weise wertvoll. Vor allem erlebt man das am Anfang und im Mittelteil des Films, gegen Schluss lässt einen der Autor mit seinen Bildern und Texten etwas allein und verlangt unser aktives Mittun – wie es grundsätzlich bei jedem Film funktioniert, indem die eine Hälfte der Aussage von den Filmschaffenden stammt, die andere von uns. Über diese Offenheit bin ich dem Autor dankbar, weil so sein Film zu meinem, zu deinem, zu ihrem Film wird: diese bildgewaltige und ehrliche Lebensbilanz einer Generation.

In persönlicher Ich-Form erinnert sich der Autor im Off-Kommentar an seine eigenen Entwicklungsstationen, ergänzt durch grossartige Tableaus der beiden Kameramänner Pio Corradi und Guy Fässler. Diese beschreiben und hinterfragen die Absurdität eines auf Konsum und Spektakel ausgerichteten Lebens: mit erschütternden Ausblicken auf zerfallende Monumente des Kommunismus in Bulgarien, zerbrechenden Eismassen der Zerstörung im hohen Norden, und immer, wenn die Hoffnungslosigkeit einen übermannt, folgt der Schnitt auf die Matthäus-Passion, in Schwarz-Weiss, mit klaren Tönen, hellen Stimmen, planvoller, perfekten Ordnung. All dies führt uns Labhart in vornehmer Zurückhaltung vor, die in der heutigen Medienwelt auch schon als Bescheidenheit, Feigheit, Kalkül oder als deutschschweizerische «Selbstverzwergung» bezeichnet wurde.

Das Eis der Pole schmilzt unaufhaltsam

Anmerkungen des Autors

Ein regnerischer Morgen, 2016. Ich höre die Matthäus Passion von J. S. Bach, dirigiert von Philippe Herreweghe. Die Geschichte, die die Musik erzählt, ist traurig, aber tröstlich. Sie handelt von Liebe, Verrat, Konsequenz und Tod. In mir macht sich eine Melancholie breit, die den Zustand der Welt aushaltbar macht. Ich bin 65 Jahre alt, mein ganzes Leben habe ich an die Macht der Veränderung geglaubt – die Versuchung des Rückzugs ist da. Und doch meint Adorno: Es gibt kein richtiges Leben im falschen.

Die Fakten sind klar: Die Ungleichheiten sind schreiend, die Macht des Geldes ist abstossend, die Zerstörung der Natur schreitet voran, Millionen von Menschen sind auf der Flucht, die Welt ist aus den Fugen. Die globale Maschine rattert, die Logik des Marktes unterstützt die Gier des Menschen, die Erde leidet unter dem Gewicht des ökonomischen Diktats. Ein Planet, der vier Milliarden Jahre alt ist, wird in einer globalen Wirtschaftsmaschinerie aufgerieben, die Unmengen von Gütern und Müll, irrsinnigen Reichtum und massenhaftes Elend produziert. Die Erde wird für einen endlos wachsenden Profit verbrannt. Die Überwachung ist so raffiniert, dass wir selbst in Freiheit nur noch Konsum produzieren – und über allem leuchtet die hysterische Botschaft der Effizienz.

Meine Grundfragen, auf die ich im Film eine Antwort suchte: Warum verändert sich nichts, obwohl die Menschen sich ihr eigenes Grab schaufeln? Was für Mechanismen spielen in unserem Inneren? Worauf gründen die Kräfte der Anpassung, die Macht der Herrschenden, die Starrheit der Verhältnisse? Worauf beruht diese postmoderne Leere? Marx nennt sie Verfremdung, Barthes Fremdheit. Welche Rolle spielt die ideologische, mediale Macht zur Aufrechterhaltung der Verhältnisse?

Bald wurde mir klar, dass meine eigene Biografie im Spiegel weltgeschichtlicher Ereignisse ein narratives Element der Filmgeschichte sein wird, fragmentarische Splitter zwischen Resignation, Anpassung und Aufbäumen.

Die fünfzig Drehtage mit den beiden wunderbaren Kameramännern Pio Corradi und Guy Fässler in Japan, Dubai, Argentinien, Kalifornien, Marokko und Europa waren anstrengend. Es ging darum, Bilder der heutigen Welt zu finden, die alles andere als hübsch und harmonisch sind. Oft zeugten sie von Niedergang, Hetzerei, Konsum, Zerstörung, Armut. Manchmal hatten wir echt das Bedürfnis, mal was ganz Schönes zu zeigen, doch mein Konzept war ein anderes: Was, verdammt, ist mit unserer Erde geschehen?

Nun ist daraus kein üblicher, politischer Dokumentarfilm geworden. Er nähert sich nicht in einer beobachtenden Haltung seinem Stoff, indem Betroffene und Experten die Situation erklären. Es ist ein Essayfilm entstanden, der den Versuch wagt, eine Antwort zu finden auf die Frage Fausts: Was hält die Welt im Innersten zusammen? Er dokumentiert meine eigene Geschichte und die Suche nach den Geheimnissen unter der Oberfläche der Realität. Ich hoffe auf die Betroffenheit des Publikums, das nach dem Film mit der Gewissheit ins Freie treten wird, dass die Welt nicht so bleiben darf, wie sie ist…

Sinnlos im zerstörerischen Luxus geniessen

Christian Labhart, ein wichtiger Schweizer Dokumentarfilmer

Der Autor wurde 1953 in Zürich geboren und ist dort aufgewachsen, wurde Kameraassistent bei Condor-Film, war sechs Jahre lang Lehrer im Industriequartier von Zürich und wurde 1976 Mitarbeiter und Darsteller in der Projektgruppe «Aufpassen macht Schule» von Hans Stürm und Matthias Knauer. Seit 1999 ist er freier Filmemacher und lebt in Wetzikon. Christian Labhart ist Co-Autor oder Autor, Produzent oder Co-Produzent unter anderem folgender Filme: 2000 «Die Kinder von Kosova», 2003 «Die Brücke von Mitrovica», 2003 «Dimitri Clown», 2005 «Manès Sperber – ein treuer Ketzer», 2006 «Zum Abschied Mozart», 2009 «Zwischen Himmel und Erde», 2011 «Education Is Not For Sale», 2012 «Appassionata», 2013 «What Moves You», 2014 «Yasin darf nicht sterben», 2015 «Giovanni Segantini – Magie des Lichts», 2016 «Ignaz Troxler – Philosoph, Arzt, Schweizermacher» und 2018 «Passion – zwischen Revolte und Resignation»

Auszüge aus der privaten und öffentlichen Timeline von Christian Labhart. PDF

Regie: Christian Labhart, Produktion: 2018, Länge: 80 min, Verleih: Looknow