Phoenix
Die Jüdin Nelly (eine grossartige Nina Hoss) hat seelisch und körperlich schwer verletzt Auschwitz überlebt und wird von Lene (einer präzise handelnden Nina Kunzendorf), einer Freundin aus glücklichen Vorkriegstagen und jetzigen Mitarbeiterin der Jewish Agency, nach Berlin, in ihre alte Heimatstadt gebracht. Dort angekommen, unterzieht sich Nelly einer Gesichtsoperation und macht sich, trotz Bedenken von Lene, auf die Suche nach ihrem Mann Johnny (intensiv gespielt von Ronald Zehrfeld), den sie geliebt hat und noch immer liebt. Dieser hatte Nelly durch sein Festhalten an ihrer Ehe lange vor der Verfolgung schützen können, doch irgendwann verriet er sie, aus was für Gründen auch immer.
Mittlerweile geht Johnny davon aus, dass seine Frau tot ist. Als Nelly ihn endlich aufspürt, erkennt er sie nicht wieder, erlebt anfänglich in ihr bloss eine Ähnlichkeit mit seiner damaligen Frau. Nelly versucht erfolglos, ihn vom Gegenteil zu überzeugen. Aus dieser verwirrenden Situation heraus macht Johnny der für ihn fremden Frau den Vorschlag, seine Ehefrau zu spielen, um an das Erbe zu kommen, das die im Holocaust ermordete Familie Nellys hinterlassen hat. Nelly lässt sich darauf ein. Sie wird ihre eigene Doppelgängerin und verzweifelt zusehends an dieser Rolle, kann jedoch nicht aufhören, denn sie möchte wissen, ob Johnny sie geliebt und wirklich verraten hat. Nelly will für ihr Leben eine neue Identität.
Nelly sucht in Johnny ihren Mann
Die Crew verschafft uns Zugang zum Film
Der Regisseur und die Protagonisten haben sich intensiv mit dem Thema auseinandergesetzt und legen uns Ergebnisse ihres Nachdenkens in Statements vor:
Nina Hoss (Nelly): «Im Lager wurde man entmenschlicht, alles, was einen Mensch sein liess, wurde zu zerstören versucht. Wie kannst du dich dem wieder annähern, was dich als Mensch ausgemacht hat. (…) Wieso erkennt Johnny sie nicht? Weil Nelly sich selbst nicht erkennt. Wenn der Kern gebrochen ist, dann erkennt man sich nicht mehr.»
Ronald Zehrfeld (Johnny): «In den Nachkriegsjahren gab es eher das Instinktive, dieses Überleben-Wollen, überhaupt etwas zu essen zu haben im zerbombten Deutschland. Wann darf man wieder lachen, wann darf man mal wieder tanzen gehen, sich, das Leben spüren?»
Nina Kunzendorf (Lene): «Die sind alle kaputt, die sind alle geschädigt, die sind verletzt. So habe ich diese drei Menschen, aber auch die anderen in dieser Geschichte verstanden: Dass sie alle auf der Suche sind nach einem Leben. Die einen wollen ihr altes Leben zurück, die anderen, wie Lene, ein neues Leben. Sie versuchen, sich etwas Neues aufzubauen, eine Perspektive zu schaffen. Was sie eint, ist, dass sie alle Geschädigte, Verlorene sind.»
Petzold (Drehbuch und Regie): «Odysseus braucht zehn Jahr, um wieder an der Gesellschaft teilnehmen zu können, denn er kann nach Troja nicht direkt wieder nach Hause kommen. Diese Odyssee gab es 1945 nicht, weil es das Zuhause so nicht mehr gab. (…) Wenn Nelly der Lene von ihrem Zusammensein mit Johnny erzählt, sagt sie: „Wir sind fast wie ein Liebespaar, das sich gerade erst kennenlernt.“ Es gibt Momente, wo Johnnys Abwehrmechanismus brüchig wird. Nelly schafft es aber durch Bewegungen und Erinnerungen, bei ihm an die verdrängten Bereiche zu rühren. Sie versucht, diese Liebe, die er verdrängt hat, wieder gegenwärtig zu machen. Daraus kommt die ganze Spannung. Er versucht, die Vergegenwärtigung der Liebe zu verhindern, und sie versucht, sie wiederherzustellen. (…) Später, nach dem unerwarteten Wiedersehen, versucht Lene ein zweites Mal, Nelly zu retten und zu sagen: „Komm mit mir, komm ins Leben, lass uns etwas Neues anfangen.“ Nelly entscheidet sich erneut andern, in Lenes Augen gegen sie. (…) Wenn Nelly sagt: „Ich kann doch nicht mit französischen Schuhen aus Paris in einem roten Kleid aus dem Lager zurückkehren“, dann erklärt ihr Johnny: „Doch, sonst erkennen die dich nicht. Sonst schaut dich niemand an.“ Darin steckt etwas davon, was Jean Améry und andere Heimkehrer erzählen, dass sie wie ein Gespenst durch Deutschland gegangen sind, weil niemand sie angeschaut hat.»
Bis zum Schluss blieb der Ausgang offen
Von der Bedeutung der Geschichte
Der Film handelt von einer Person, die in Auschwitz war – und von Millionen, die in Kriegen waren, berichtet von einer Rückkehr aus dem KZ – und von Tausenden von Rückkehrern, schildert die Unmöglichkeit, wieder Heimat zu finden – und Menschen, die ihre Partner und letztlich sich selbst nicht mehr finden, beschreibt Nellys Suche nach Identität – die Suche jedes Menschen nach seiner Identität. Petzold erzählt die Geschichte mit grossartigen Darstellerinnen und Darstellern, beklemmenden Bildern und Tönen in einem Kammerspiel, das im Kleinen das Grosse und im Grossen das Kleine meint. Konkret nach dem Zweiten Weltkrieg angesiedelt, ist sie gültig für jede Zeit, diskret verortet in der Nähe des Nachtcafés «Phoenix», das zum Symbol wird: des immer Wiederkehrenden im mythischen Vogel, der verbrennt oder stirbt und wieder aus der Asche aufersteht.
«Ist es möglich, über den tiefen, nihilistischen Riss, den die Nationalsozialisten in Deutschland vollzogen haben, zurückzuspringen und die Gefühle, die Liebe, die Barmherzigkeit, das Mitleid, überhaupt das Leben zu rekonstruieren?», fragt Petzold und negiert es: «Nelly sieht nicht ein, dass keine Erzählung, kein Gesang, kein Gedicht, dass die Liebe nicht mehr möglich sein soll. Sie will die Zeit umkehren.» Der Film erzählt vom Versuch, ein im Krieg zerstörtes Leben nach dem Krieg zu rekonstruieren – was hier nicht gelingt, auch sonst nur schwer gelingen dürfte.
Formal und inhaltlich, aber auch wegen der ebenfalls grossartigen Interpretation der Hauptperson durch Nina Hoss empfiehlt sich ein Vergleich mit «Barbara», dem letzten Film von Christian Petzold.
Titelbild: Nelly auf dem Weg zur eigenen Identität
Regie: Christian Petzold
Produktionsjahr: 2014
Filmlänge: 98 min.
Verleih: LookNow