Police - Bis an die Grenze

Bis an die Grenze: Die Polizisten Virginie, Aristide und Érik haben den Auftrag, einen tadschikischen Asylbewerber zur Ausschaffung auf den Flughafen zu bringen. Anne Fontaine vertiefte mit «Police» den Polizeifilm zu einem politisch-ethischen Drama: aktuell und herausfordernd. - Ab 22. April im Kino
Police - Bis an die Grenze

Aristide, Virginie und Érik

Basierend auf Hugo Boris‘ Roman «Police» schuf die französische Schauspielerin, Drehbuchautorin und Regisseurin Anne Fontaine, * 1959, eine packende Erzählung über einen persönlichen und gesellschaftlichen Konflikt. Während der Fahrt zum Flughafen realisiert Virginie, dass auf den ausgeschafften Mann in seiner Heimat der sichere Tod wartet. Die drei Pariser Ordnungshüter Aristide, Virginie und Érik geraten in einen Gewissenskonflikt: Sollen sie Dienst nach Vorschrift leisten oder eigenen moralischen Grundsätzen folgen?

Dieser Haupthandlung des Films werden im ersten Teil Schilderungen von Einsätzen der gleichen Polizisten, aus verschiedenen Perspektiven beleuchtet, vorangestellt. Damit bietet der Film ein vielschichtiges und differenziertes Bild des Berufsalltags und des Privatlebens der drei Protagonisten. Für mich, der ich nur selten Krimis schaue, bietet diese Einleitung eine informative Innenschau von Polizisten.

police.04
Aristide und Virginie

Die Hauptakteure


Virginie (Virginie Efira), die Frau in der Einsatztruppe, ist Mutter eines kleinen Kindes und Partnerin eines Ehemannes, mit dem das Zusammenleben nicht problemlos verläuft. Doch zutiefst beschäftigt sie die Tatsache, dass sie schwanger ist, nicht von ihrem Mann, sondern von ihrem Kollegen Aristide, das Kind nicht will und am nächsten Tag die Abtreibung ansteht. Zuvor aber hat sie mit Érik einen Einsatz: Sie müssen zu einer Frau, die von ihrem Mann misshandelt wurde. Danach wird die gleiche Szene aus der Perspektive von Érik (Grégory Gadebois) erzählt. Dieser hat seinerseits grosse Schwierigkeiten mit seiner Frau, die nörgelt und ihm vorwirft, ihr kein Kind machen zu können. Weiter werden Érik und Aristide zu einem Ort gerufen, wo eine Frau ihr Kind in eine Gefriertonne gesteckt und so getötet hat. Danach sehen wir Bilder von weiteren Einsätzen. Und es folgt eine dritte Version, diesmal aus der Perspektive von Aristide (Omar Sy). Zusammengefasst bietet dieser Filmanfang eine informative Schilderung des Alltags bei der Pariser Polizei.

Am Abend sucht der Chef Freiwillige für einen Sondereinsatz, den niemand übernehmen will, bis sich die drei melden. Sie müssen nun den tadschikischen Asylanten Asomidin Tohirov (Payman Maadi) vom Abschiebegefängnis für die Ausschaffung in seine Heimat zum Flughafen bringen. Hier kippt die Geschichte. Bisher ging es vor allem um das Privatleben und den Berufsalltag von Polizisten: Auch Polizisten sind nur Menschen, mit Sorgen und Problemen, individuellen und zwischenmenschlichen, verborgenen, verdrängten, schwelenden oder explodierenden. Ab hier dringt eine politische Dimension, die Asylpolitik, in den Vordergrund, die sich für die Polizisten anfänglich als individuelle, dann als zwischenmenschliche und schliesslich als ethisch moralische manifestiert. Auch von Tohirov gibt es ein Profil, doch nicht individuell und privat wie bei den andern, da sprachlich keine Verständigungsmöglichkeit besteht. Das Bild von ihm ergibt sich lediglich aus einem Dossier, das Virginie aus Neugier geöffnet hat, aus der Intervention einer politischen Aktivistin und einigen dramatische Reaktionen des Gefangenen gegenüber den Aufsehern. Denn Tohirov gilt nicht als Person, ist lediglich ein Fall.

police.05
Auf dem Flughafen

Zur Grenze und zurück


Filme sind für das Publikum gemacht, sollen dort ankommen. Das tut dieser Film. Auch als Nicht-Polizisten sind wir verwandt mit Virginie, Érik und Aristide und ihren Auseinandersetzungen. Das, was sie als Berufsleute täglich auf den Strassen und in den Häusern an Gewalt erleben, sehen, hören oder lesen wir in den Medien. Als Staatsbürger sind wir gefordert, uns dazu eine Meinung zu bilden und danach zu handeln.

Wie würden wir handeln? Das ist die Frage, die «Police – Bis an die Grenze» stellt. Wir stehen persönlich vor der gleichen Frage wie die Polizisten. Wie hat uns der Film jedoch zu unserer aktuellen Meinung geführt? Das können wir leicht aus zahllosen Szenen, Worten und Sätzen, Bildern und Tönen erfahren. Befragen Sie den Film! Inwiefern es die Kunst Anne Fontaines ist, möchte ich nachfolgend grundsätzlich zu begründen versuchen.

police.02
Beim Fitness

Mensch-Sein «durchdekliniert»

Ein Qualitätsfilm, was «Police – Bis an die Grenze» in meinen Augen ist, zeichnet sich, anders als ein Mainstreamfilm, unter anderem dadurch aus, dass die handelnden Personen vieldeutig, mehrdimensional, ambivalent, widersprüchlich und offen sind. Auf unsern Film bezogen: Virginie ist nicht durchgängig dieselbe Virginie, Érik verhält sich hier so und dort anders, Aristide verändert sich im Lauf der Zeit. Der Film zeigt also Personen, die verschiedene Befindlichkeiten und Möglichkeiten des Handelns haben, die so oder anders zwischen Privatem und Beruf pendeln, bilateral oder trilateral. Weiter gestaltet die Regisseurin ihre Figuren so, dass zum Beispiel Virginie mehr ist als Virginie, Érik anders ist als Érik, Aristide weniger als Aristide, dass es in ein und demselben Film also verschiedene Virginies, Ériks und Aristides gibt. Jeder Mensch handelt verschieden, nach seinem Bewusstsein, seinem Unterbewussten, aus diesem oder jenem sachlichen Grund, mit dieser oder jener persönlichen Absicht. Und all dies wandelt sich in der Zeit der Filmhandlung. Mensch-Sein wird, so könnte man vielleicht sagen, an drei Personen «durchdekliniert».

So erlebe ich den Film von Anne Fontaine als ein Werk, das Menschen in ihrer Ganzheit, ihrer Grösse und ihrem Elend, ihrer Unvollkommenheit, ja Fehlerhaftigkeit zur Darstellung bringt: Menschen, welche die Römer wie folgt umschrieben: «Irren ist menschlich, aber auf Irrtümern zu bestehen ist teuflisch.» (Errare humanum est, sed in errare perseverare diabolicum). Ich erlebe den Film als etwas, das mich angeht, betrifft und trifft; denn auch ich bin nicht eindeutig, sondern mehrdeutig und offen für vieles.

Regie: Anne Fontaine, Produktion: 2020, Länge: 109 min, Verleih: Frenetic