Pushing Boundaries

Die Paralympics und der Krieg: Die aus der Ukraine stammende und in der Schweiz arbeitende Regisseurin Lesia Kordonets hat mit ihrer Dokumentation «Pushing Boundaries» eine Innenansicht des Lebens von Sportlerinnen und Sportlern der Paralympics während des Ukraine-Krieges geschaffen. Leider notwendiger denn je. Ab 28. Juli im Kino
Pushing Boundaries

Der erfolgreiche Ruderer Roman Polianski

Mit der russischen Annexion der Krim vom März 2014 verliert die paralympische Mannschaft der Ukraine ihre Trainingsbasis, einige des Teams ihre Staatsangehörigkeit, viele werden Flüchtlinge im eigenen Land. Während die Grenzen verschoben und Leute umgesiedelt werden, versuchen die Athletinnen, die Athleten und der Staff sich im kriegsversehrten Land den neuen politischen Gegebenheiten anzupassen. Wird es ihnen gelingen, sich auch unter diesen Umständen für die nächsten Paralympics zu qualifizieren? Das ist die Frage, und weiter: Wie leben die Menschen in dieser sich verschlechternden Situation weiter?

Im Film von Lesia Kordonets geht es im historischen und gesellschaftlichen Kontext des Anfangs der aktuellen russischen Besetzung der Ukraine um Fragen der Identität, Zugehörigkeit und um die berufliche und private Anpassung. «Pushing Boundaries», was «Grenzen sprengen» heisst, war der Slogan der paralympischen Spiele 2014 im russischen Sotschi. Während der internationalen Wettkämpfe setzten die Russen den Slogan militärisch um und annektierten die Halbinsel Krim. Damit verlor das Paralympicsteam der Ukraine über Nacht sein Trainingszentrum und einige Sportlerinnen und Sportler ihre Staatszugehörigkeit. Für den Leiter des Teams, Valeriy Suschkevytsch, der seinen Job mit Leidenschaft und Diplomatie ausgeführt und das moderne nationale Zentrum aufgebaut hatte, ein besonders harter Schlag. Über Jahre hat er sein Team an die Weltspitze des Behindertensports gebracht, ein Erfolg, der die internationale Sportwelt in Erstaunen versetzte. Mit dem Verlust des Zentrums und neuerlich der Nutzung durch die russischen Sportlerinnen und Sportler wird Trainieren für sie zur grossen Herausforderung. In diesem kriegsversehrten Land, wo Grenzen ständig verschoben und Leute umgesiedelt werden, müssen sich alle Beteiligten den neuen politischen Gegebenheiten anpassen.

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Einzug des ukrainischen Teams an den Paralympics in Rio

Vom Sinn und Wert der Paralympics

Der Film begleitet, wie es in der Ankündigung der Regisseurin heisst, einige Athletinnen und Athleten des paralympischen Teams, die tagtäglich über ihre psychischen und physischen Grenzen und ihr Umfeld hinauswachsen. Die Bilder von «Pushing Boundaries», durchtränkt von der Frage nach dem Sinn und Wert menschlicher Höchstleistungen, breitet vor uns eine Anthropologie des menschlichen Handelns aus, illustriert an den Aktivitäten der handicapierten Sportlerinnen und Sportler, stellvertretend für die sogenannten gesunden und normalen, also für alle Menschen.

In der Einleitungssequenz erzählt der Leiter des ukrainischen paralympischen Komitees eine Kindheitserinnerung: «Wie man uns, fast unbewegliche Kinder, ans Meer brachte und auf den Sand legte. Dann wurden wir einzeln ins Wasser getragen. Das grenzenlose Blau, dieser Salzgeruch und der Sand ... Wir hatten grässliche Wettkämpfe, wir Kinder, bei denen die Beine nicht funktionierten, wir hängten uns auf die Krücken in Zweierreihen im langen Flur. Gehalten von anderen, wurden wir auf ein Startsignal hin losgelassen. Man musste die Krücken sehr schnell bewegen und sich nach vorne lehnen, sonst fiel man hin. Wir hatten den unbändigen Wunsch, als Unbewegliche beweglich zu werden», und beschliesst sein Statement: «Auf der Krim, die ich das erste Mal als krankes Kind besuchte, bereits mit Polio infiziert, habe ich zusammen mit meinem Team dieses Trainingslager gebaut.» Architekturaufnahmen des ultramodernen Trainingslagers, in welchem bis zu 1300 Athletinnen und Athleten gleichzeitig trainieren konnten, mit sanfter Musik, begleiten seine Einleitung. Dabei wird einem bewusst, dass die Turnerinnen und Turner wirklich «eine Familie, keine Sportindustrie sind».

Im Film folgt die Eröffnungsrede von Sir Philip Craven, dem Präsidenten des Internationalen Paralympic Komitees: «Stolze Paralympier! Eure inspirierenden Leistungen haben die Grenzen der Möglichkeiten neu definiert. Ihr habt der Welt gezeigt, dass das scheinbar Unmögliche möglich ist.» Dann ein Schnitt: Russisches Militär marschiert ein und die ukrainische Bevölkerung reagiert: «Das sind nicht unsere Truppen. Das ist eine Besetzung. Wieso seid ihr gekommen?» Hier wird sichtbar, mit welcher Sorgfalt und Klugheit Lesia Kordonets ihren nur scheinbar einfachen Bericht zu einem anregenden, herausfordernden Dokument gemacht hat. Beim Einzug in Rio spricht Craven wie folgt: «Ihr nehmt Hindernisse und macht daraus Möglichkeiten. Ihr kämpft für eure Rechte. Durch eure Leistungen erzählt ihr Geschichten, die zeigen, dass die Hoffnung immer über die Angst siegt.» Kleinere und grössere solche Geschichten illustrieren diese Welt, unsere Welt, die Welt.

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Igor, der Rollstuhlfahrer, beim Training


Anmerkung der Regisseurin

Ich bin in einer Region ganz im Westen der Ukraine aufgewachsen, in Transkarpatien, jenseits der gebirgigen Karpaten. Ein Grenzland, das einst die Peripherie der österreichisch-ungarischen Monarchie, dann den östlichen Anhang der Tschechoslowakei und nach 1945 den westlichen Vorposten der Sowjetunion bildete. Meine Grossmutter war Bürgerin von fünf Staaten, ohne dass sie sich je aus ihrem Dorf wegbewegt hatte. Innerhalb einer Generation wechselten Ideologien, Sprachen und Währungen fünfmal. Als Russland 2014 die Krim annektierte, war ich zutiefst schockiert. Mir wurde schlagartig klar, dass die Grenzen in Europa nicht mehr unantastbar sind. Die Ukraine ist ein behindertes Land geworden und hat ihre Glieder verloren.


Aber trotz all dieser widrigen Umstände und des dramatischen Verlusts ihrer Trainingsbasis ist es dem ukrainischen Paralympicteam gelungen, starke Leistungen zu erbringen und interne und externe Einschränkungen zu überwinden. Ich war fasziniert von diesem Paradoxon und fand darin ein dramatisches Potenzial für das Porträt dieses zerrissenen Landes. «Pushing Boundaries» ist kein Sportfilm, sondern zeigt den Zustand eines Landes, in dem der Krieg Freundschaften spaltet und Familien und Menschen gezwungen sind, sich neu zu orientieren. Auch wenn der Krieg direkte Auswirkungen auf meine Protagonisten hat, hatte ich nicht die Absicht, den Ursachen des Konflikts nachzugehen. Mein Film konzentriert sich mehr auf die zerstörten Identitäten, auf Menschen, die ihr Heimatland verloren haben.


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Valeriy Suschkevytsch, der Teamchef

Lesia Kordonets, die Filmemacherin

Lesia Kordonets wurde im Jahr 1983 in der Ukraine geboren. Geprägt durch die gesellschaftlichen Turbulenzen in ihrer Heimat hat sie die Theodor-Heuss-Kolleg-Ausbildung zur Förderung demokratischer Verantwortung und öffentlichen Engagements in Osteuropa gemacht. Parallel dazu absolvierte sie ein Germanistikstudium. Seitdem hat sie verschiedene Filme in der Ukraine und in der Schweiz geschrieben und realisiert. 2013 erlangte sie einen Bachelor of Arts in Film an der Zürcher Hochschule der Künste. Seit 2014 ist sie dort im Master-Studiengang für Dokumentarfilm.

«Pushing Boundaries» wird ihr Abschlussfilm. Mit ihm hat sie bereits verschiedene Preise gewonnen: in Nyon den Prix Zonta 2021, am ZFF 2021 die Auszeichnung für die beste Regie, Kategorie Dokumentarfilm, am Budapest Int. Documentary Film Festival den Brave Rebels Award 2022 und von der Alexis-Victor-Thalberg-Stiftung den Dokumentarfilmpreis 2022.

Pushin.Stadiong
Das ukrainische, von den Russen annektierte Übungsgelände

Regie: Lesia Kordonets, Produktion: 2021, Länge: 102 min, Verleih: Royal Fillm