RBG – Ein Leben für die Gerechtigkeit
Ruth Bader Ginsburg (RBG)
Als Anfang November 2018 die Meldung die Runde machte, dass die US-Richterin Ruth Bader Ginsburg (RBG) in ihrem Büro gestürzt sei und sich dabei Rippen gebrochen habe, war die Anteilnahme gross. Zu den Artikeln aller grossen US-Medien fanden sich auf Facebook hunderttausende enthusiastischer Kommentare. Warum erzeugt eine 85-jährige Richterin so viel Anteilnahme? Warum ist diese Frau ein solches Phänomen? Der Dokumentarfilm «RBG – Ein Leben für die Gerechtigkeit» der Regisseurinnen Betsy West und Julie Cohen schildert mit Interviews und öffentlichem und privatem Archivmaterial das Leben und Werk der aussergewöhnlichen Juristin, die wir auch privat als Frau, Mutter und Ehepartnerin kennenlernen. Die Cineastinnen machen klar, warum diese Frau in Amerika, und auch ausserhalb, aktuell grosse Relevanz hat. – Vorgängig zu diesem hoch interessanten und witzigen Dokumentarfilm kam als konventionelles Biopic «On the Basis of Sex» von Mimi Leder in die Kinos.
Der Supreme Court 1993
Zwei kluge Regisseurinnen am Werk
Betsy West und Julie Cohen zeichnen in ihrer Dokumentation die Lebensgeschichte der 1933 in New York als Joan Ruth Bader geborenen späteren Vorkämpferin für Gleichberechtigung nach. Sie schildern, wie sie von ihrer jüdischen Mutter zu einer selbstbewussten, unabhängigen Frau erzogen wird, die schliesslich an den Elite-Universitäten Harvard und Columbia Jura studiert und sich dabei von ihrem eigenen Dekan anhören muss, wie sie es wagen könne, einem Mann den Studienplatz wegzunehmen. Weil keine New Yorker Kanzlei eine Frau einstellen will, macht sie als eine der ersten Jura-Professorinnen des Landes Karriere, bevor sie als Anwältin in den 1970er Jahren zu einer Vorkämpferin für Gleichberechtigung avanciert. Dabei erstreitet sie gleich mehrere bis heute wegweisende Urteile. 1980 wechselt sie als zweite Frau auf die Richterbank, bis sie 1993, 60-jährig, neben sieben Männern und einer Frau, in den Supreme Court gewählt wird.
Die beiden Regisseurinnen beschränken sich nicht auf ihren eindrucksvollen beruflichen Werdegang, sondern gehen auch ausgiebig auf Ginsburgs Ehe mit ihrem 2010 verstorbenen Mann Martin ein. Der lebenslustige, immer zu Scherzen aufgelegte Gatte bildet das perfekte Gegengewicht zu seiner stets ernst wirkenden Frau und steckt in seiner Karriere als erfolgreicher und angesehener Steueranwalt immer wieder zurück. Er kümmert sich um Haushalt und Kinder, während sie bis tief in die Nacht über ihren Fällen brütet und dabei schon mal das Essen vergisst. Gerade die Archivaufnahmen des auch öffentlich gerne über diese damals noch ungewöhnliche Rollenverteilung scherzenden Martin verleihen dem Film eine beschwingt-optimistische Lockerheit. West und Cohen sind die mehrfach preisgekrönten Schöpfer dieses ernsten und lustigen, klugen und unterhaltsamen Porträts der vielleicht wichtigsten Frau im heutigen Amerika.
RBG als Referentin
Auch mal jenseits der Normen
Der Film ist voll amüsanter Beobachtungen. Schon der Einstieg zeigt Ginsburg nicht etwa in ihrer Richterrobe, sondern im legeren Sportanzug. Mit ihrem Personaltrainer stemmt die 85 Jahre alte und 153 cm kleine Frau Gewichte und macht Liegestütze. Ein köstlicher Anblick, der auch ohne ein gesprochenes Wort bereits einen ersten Eindruck dieser taffen Frau liefert. Ein weiteres Highlight ist ein Uni-Vortrag von RBG. Da hängen hunderte Mittzwanziger an ihren Lippen, die jedes ihrer leise und bedächtig vorgetragenen Worte aufsaugen und äusserlich die Frau wie einen Superstar verehren. Für diese jungen Leute ist die Richterin «Notorious RBG», in Anspielung auf den Rapper Notorious BIG. Auch ein Buch über sie ist so betitelt. Die Schilderung des Lebens von Ruth Bader Ginsburg verkommt nie zur blossen Aneinanderreihung von Fakten, weil die Filmemacherinnen immer wieder geschickt die Perspektive, die Zeiten und Orte wechseln. Dabei blicken die Protagonistin und ihre Freunde, Weggefährten und politische Konkurrenten nicht einfach in typischer Interviews-Manier auf ihr Leben und ihre Karriere, stattdessen wird als Rahmen Ginsburgs Senatsanhörung vor ihrer Berufung zur Obersten Richterin im Jahr 1993 genutzt: ein erzählerischer Kniff, der aus aktuellem Anlass sogar noch stärker wirkt als ursprünglich. Schliesslich dürften die jüngsten Bilder der Anhörung ihres neuen Kollegen Brett Kavanaugh im vergangenen September vielen noch präsent sein. Aus den Parallelen und Unterschieden zwischen den beiden Anhörungen lässt sich eine Menge Schönes und Unschönes über das heutige Amerika ableiten.
Jimmy Carter mit Ruth Bader Ginsburg
Ihre besonderen Verdienste
Ginsburg begeistert bei der Anhörung Senatoren und Zuschauer gleichermassen als selbstbewusste, starke Frau, die auch vor klaren Ansagen nicht zurückschreckt: So macht sie etwa deutlich, dass Frauen Recht auf Abtreibung haben, eine Position, die in einer solchen Anhörung undenkbar schien und es auch heute noch ist. Eigentlich ist sie so für die konservativen Republikaner unwählbar. Am Ende wird sie trotzdem mit überwältigendem Mehr von beiden Seiten des politischen Spektrums gewählt. Hier wird ein Bogen zu einem Thema geschlagen, das im ganzen Film präsent ist, obwohl nie direkt angesprochen: Wie wichtig es ist, in einer Demokratie unabhängige und selbstbewusste Richter zu haben, selbst wenn sie mal über das Ziel hinausschiessen. So wird erwähnt, dass RBG sich vor den US-Wahlen 2016 klar gegen Donald Trump positionierte, ihn einen «Faker» nannte und damit für einen Skandal sorgte. Das war ein Fehler, aber einer, der sie, die immer wieder mit brillanter und scharfer Zunge Minderheitsvoten im konservativ geprägten Gericht schreibt, uns nur noch menschlicher macht.
An kritischen Fragen hat der Film wenig Interesse. Dass einige Demokraten hofften, Ginsburg könnte noch unter Obama abtreten und damit für eine demokratisch eingestellte Nachfolge sorgten, das erwähnt der Film ohne weitere Erklärung. Warum wohl? Vielleicht, weil aktuell Hoffnungsträger, positive Identifikationsfiguren wie diese Frau dringend benötigt werden, weil die liberale Gesellschaft, für die sie stehen und die sie stärken, heute so fragil ist. Das, was uns Ruth Bader Ginsburg im Film von Betsy West und Julie Cohen bewusst und erlebbar macht, zeigt viel auf über den Zustand der amerikanischen, aber auch unserer Gesellschaft.