Reise der Hoffnung
Der Sohn Mehmet Ali
Zusammen mit dem siebenjährigen Sohn Mehmet Ali, dem aufgewecktesten seiner sieben Kinder, tritt das türkische Ehepaar Haydar und Meryem in einem kleinen Dorf im Südosten der Türkei die «Reise der Hoffnung» an, die sie aus der armen Heimat in die reiche Schweiz führen soll. Die Familie hat Hab und Gut verkauft, um die Reise finanzieren zu können. Zunächst reisen die drei nach Istanbul, wo sie von einem Vermittler als blinde Passagiere auf ein Containerschiff nach Neapel verfrachtet werden. Dort verspricht Ihnen der Schweizer Lastwagenfahrer Ramser den direkten Transport ins vermeintliche Paradies.
Der Versuch scheitert an der Zollkontrolle in Chiasso. In Mailand gerät die Familie in die Hände von Schleppern, die sie mit einer Gruppe von weiteren Asylanten in die Berge fahren. Trotz unsicherer Wetterlage schickt man die Flüchtlinge ohne ortskundige Begleitung auf ihren gefährlichen, illegalen Weg in die Schweiz. Ihre Reise der Hoffnung wird zum Kampf ums nackte Überleben.
1991 hat Xavier Koller mit «Reise der Hoffnung» den Oscar für den besten fremdsprachigen Film erhalten. In der Zwischenzeit wurde der Film unzählige Male im Kino und im Fernsehen gezeigt, weshalb ich hier auf eine persönliche Würdigung verzichte und dem Regisseur für zwei Texte das Wort erteile.
Die Flüchtlinge: Mutter, Sohn und Vater
Anmerkungen des Regisseurs Xavier Koller zur Entstehungsgeschichte des Films im Oktober 1988
«Tragisches Ende einer illegalen Einwanderung in die Schweiz
Am Splügenpass ist in der Nacht auf Donnerstag ein siebenjähriger türkischer Knabe, der sich mit seinen Eltern zu Fuss auf den Weg in die Schweiz befand, an Erschöpfung und Unterkühlung gestorben. Gemäss Bündner Staatsanwaltschaft hatten Schlepper eine Gruppe von zwölf Ausländern von Mailand zum Splügenpasse gefahren und sie trotz Schneefalls und Kälte auf den Weg in die Schweiz geschickt.»
Diese Meldung machte mich sehr betroffen. Ich überlegte mir, welche Lebenssituation oder welche Utopie wohl diese Hoffnung auf ein besseres Leben fern der Heimat geschürt haben mochte. Wer hatte diese Menschen dazu verführt, ihr bescheidenes Hab und Gut für eine noch bescheidenere Menge Geld zu veräussern, um sich den illegalen Weg ins Paradies zu erkaufen? Diese Geschichte, den wahren Ereignissen frei nachempfunden, erzählt der Film.
Der Schlepper Ramser (Mathias Gnädinger) und die Familie
Anmerkungen des Regisseurs Xavier Koller im Juli 2016
Die Aktualität meines Films ist erschreckend! Waren die Zahlen der Flüchtlinge, die Ende der achtziger Jahre von einer Zukunft im sicheren Europa träumten, noch überschaubar, so tritt der Flüchtlingsstrom heute buchstäblich «über alle Ufer». Erwärmten Empathie und Mitleid vor 25 Jahren noch die Herzen vieler Menschen in den «Gastländern», ist heute auf dem politischen Parkett mehrheitlich kalte Abwehr spürbar.
Aber auch schon damals argumentierten Politik und Presse mit Zahlen und Statistiken. Man sprach selten über die individuellen Schicksale der Menschen, man sah nur Massen. Heute sind diese unübersehbar geworden und die individuellen Geschichten dieser Menschen finden noch seltener Beachtung. Nur wenn ein Bild wie das des toten syrischen Jungen Anfang September 2015 am Strand durch die Weltpresse geht, erinnert man sich für einen kurzen Moment, dass da Menschen in Not unterwegs sind, Menschen, die ihr Leben und das ihrer Liebsten riskieren, um in einem der gelobten Länder Zuflucht zu finden.
Ein ähnliches Bild bewog mich seinerzeit, «Reise der Hoffnung» zu machen. Es war zwar kein Foto, sondern nur ein kurzer Text, der mich aufwühlte, aber als emotionales Bild in mir blieb: das Drama vom 13. Oktober 1988 am Splügenpass. Ein früher Wintereinbruch überraschte eine Gruppe Flüchtlinge aus der Türkei, und ein kleiner kurdischer Junge musste dabei sein Leben lassen. Damit bekam dieses Drama ein Gesicht, ein Bild, das sich aus der Masse der Zahlen herauslöste. Das bewog mich dazu, den Statistiken ein menschliches Bild und eine personalisierte Geschichte entgegenzusetzen.
Die für das Drama verantwortlichen Schlepper von damals waren genauso ruchlos wie die von heute. Nachdem die Schlepper den Fliehenden das Geld abgenommen und sie an den Berg herangeführt hatten, wurden diese Menschen ihrem Schicksal überlassen, um über die «grüne» Grenze in die Schweiz zu gelangen. Damals waren die Schlepperbanden noch kleine Organisationen – heute sind sie zu menschenverachtenden Grossunternehmen geworden, vergleichbar mit Drogenkartellen, und sie verdienen damit Hunderte Millionen an Blutgeldern. Warum man diesen Gangstern nicht das Handwerk legen kann, bleibt für mich ein Rätsel.
Natürlich haben sich auch die politischen Voraussetzungen in den Herkunftsländern dramatisch verändert, und zwar in einem Masse, das den Schleppern die Notleidenden geradezu auf ihre Schiffe treibt. Transportierten früher die Pipelines Rohstoffe aus Afrika und dem Mittleren Osten nach Westeuropa, werden von diesen «Pipelines» heute Zehntausende von Menschen «angesaugt». Für sie gibt es jedoch kaum einen Markt.
Man macht keinen Film, um einen Oscar zu gewinnen; man macht einen Film, weil einem ein Thema unter den Nägeln brennt oder es im Bewusstsein und im Herzen Aufruhr stiftet. Das war auch bei Reise der Hoffnung so. Als ich 1988 den Artikel über den kleinen kurdischen Jungen las, musste ich diesen Film gegen alle Widerstände machen, weil ich es als meine Aufgabe ansah, diese Geschichte auf die Leinwand zu bringen.
Regie: Xavier Koller, Produktion: 1990, Länge: 108 min, Verleih: Frenetic