Reise der Schatten

Das Menschsein digital erforscht: Eine idyllische Liebesszene entpuppt sich als Anfang einer surrealen Odyssee non-binärer Figuren durch ein dystopisches Universum. Der Animationsfilm «Reise der Schatten» reflektiert, was den Menschen in Zukunft zum Menschen macht. Yves Netzhammer schuf dazu faszinierende und geheimnisvolle Visionen und verwendet einzigartige 3D-Techniken. Ab 16. Januar im Kino
Reise der Schatten

Der Körper und seine Teile

Der Künstler und Filmemacher


Yves Netzhammer wurde 1970 in Schaffhausen geboren, absolvierte eine Lehre als Hochbauzeichner und machte die gestalterische Berufsmatur, absolvierte den Vorkurs der Zürcher Hochschule für Gestaltung und Kunst und das Studium für visuelle Gestaltung. Er lebt und arbeitet in Zürich. Ausstellungen mit Videoinstallationen, Diaprojektionen, Zeichnungen und Objekten von ihm gab  es ab 1997; dann arbeitete er für internationale Magazine, seit 2006 online im «Journal für Kunst, Sex und Mathematik», hatte zwei Dutzend Einzel- , halb so viele Gruppenausstellungen und wurde mit zahlreichen Auszeichnungen geehrt. Zusammen mit Christine Streuli vertrat er 2007 die Schweiz an der Biennale von Venedig. Mit seinen digitalen Kurzfilmen wurde er in der internationalen Kunstszene berühmt. «Reise der Schatten» ist sein erster Langfilm.

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Vorder- und Hintergründe


Von faszinierenden Formen ...


Ein Mensch begegnet einem Affen. Drohnen transportieren Gegenstände und töten. Wasser wird zu Blut. Wände öffnen und schliessen sich. Zwei Figuren sind zärtlich und brutal miteinander. Ein metallener Skorpion greift zerstörend ein. Menschen bauen ein Haus und entwickeln gesellschaftlich anmutende Strukturen.

«Reise der Schatten» ist radikal, hat keine Dialoge und linear erzählte Handlung, sondern assoziative kurze Sequenzen. In ungewohnten Formen und Farben ereignen sich Metamorphosen ineinander- und auseinanderfliessender Bewegungen in einem fremden, unheimlichen Universum. Die Oberflächen sind exakt und clean, Geräusch, Klänge und kurze Melodien setzen Akzente. Die Kürzestgeschichten regen zum Entschlüsseln an, beschenken mit ästhetischen Überraschungen und entlocken da und dort ein Heureka.

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Menschen und ein Ungeheuer

... zu fantastischer Vieldeutigkeit

 


Frühere Werke Netzhammers sind Schwarz-Weiss-Zeichnungen, die thematisch ähnlich aufgebaut sind wie die späteren Videoinstallationen. Perspektivische Fälschungen und optischen Täuschungen gibt es zuhauf. Zu den wichtigsten Werken gehören Rauminstallationen mit Objekten und Landschaften sowie Videoprojektionen. «Reise der Schatten», mit dem Computer errechnet, besteht aus vielfältigen Szenen, die von Anthony Pateras Musik und Loredana Cristellis Montage unterstützt werden und in ihrem Reichtum fesseln und zugleich verwirren. Die Geschichten brechen aus dem Realen ins Surreale. Darin kombiniert der Filmemacher Leben mit Tod, Tier mit Mensch und immer wieder mit Büchern, wohl als Chiffre für Bildung und Kultur. Bilder, Abbilder, Vorbilder, Sinnbilder des Lebens! Es gilt das Wahre und das Gegenteil, die Natur und die Technik.

Der Film schildert Szenen, erinnert an Ereignisse, umspielt Befindlichkeiten des Lebens, macht betroffen durch seine radikale Ästhetik und beschenkt uns mit unzähligen Momenten überraschender  Wahrnehmungen unbekannter Wirklichkeiten.

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Mensch und Affe im Kampf

 

Anmerkungen des Regisseurs


Ich betrachte Animation als einen Spiegel, durch den wir die Gegenwart hinterfragen können. Ich arbeite seit Jahrzehnten mit dem 3D-Animationsprogramm Infini-D, das von wissenschaftlichen Animatoren entwickelt wurde. In meinen bisherigen Kurzfilmen habe ich Erzählformen mit digitalen Modellen entwickelt, die vollständig ohne naturalistische Elemente auskommen und ausserhalb der Sprache liegen. Mich interessiert es, das Visuelle in einer von Intellektualität bestimmten Welt in den Vordergrund zu stellen.

Meine animierten Figuren haben keine feste Identität. Jede kann sich jederzeit in eine andere verwandeln oder ist bereits in der anderen enthalten. Sie sind ohne Individualität. Durch den präzisen Einsatz von Gesten und die fein ziselierte Handlung werden die Figuren «individualisiert». Die Empathie, die sich beim Betrachten einstellt, wirkt im Spannungsfeld zwischen technoider Künstlichkeit und emotionaler Dichte. Die eigentümliche Verbindung zwischen digitalen und realen Körpern lässt mitfühlen und über mögliche künftige soziale Probleme nachdenken.

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Auch Sex ist Teil der Story

«Reise der Schatten»

 


Mit der im Film verwendeten Technik werden Figuren und Szenen zunächst im einheitlichen Stil als 3D-Modelle produziert, anschliessend werden Sequenzen erstellt und in verfeinerte Bewegungen eingepasst. Die Vorarbeit und die Animation sind aufwendig und komplex. Mit diesem Ansatz glaubt Netzhammer, dem Publikum ein aussergewöhnliches Kinoerlebnis zu bieten. Er zielt darauf, die Filme, die durch Traumstimmungen, in denen Eros, Einsamkeit, Schmerz und Hoffnung dominieren, in Kunstwerke hoher technischer Präzision und verdichteter Sinnlichkeit zu verwandeln.

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Farben und  Formen dominieren

 


Weiter sinniert und fantasiert

 


Das Leben der Menschen im Film ist meist von festen Ritualen und Gewohnheiten geprägt, beispielsweise wenn sie schwimmen, dann synchron, als wären sie ein einziger Mensch. Die Routine ihres Lebenslaufes wird durch den Tod des einen abrupt beendet. Was nun? Mit dem eigenen Leben konfrontiert, beschliesst die zurückgelassene Figur, eine Reise zu machen. Eine einsame Insel wird zum Ort und Anlass, sich selbst zu entdecken und neu zu definieren, seinen Ort in der Welt zu finden. So entstehen fremde visuelle und akustische Welten, für die im normalen Kino Spezialeffekte gebraucht würden. Im Animationsfilm ist es leicht, Figuren etwas tun zu lassen, was in der Realität unmöglich ist.

Im Mittelpunkt des Werkes stehen Menschen, denen eine äussere Identität fehlt: Wir wissen nicht, wie sie heissen, woher sie kommen und hören sie nie sprechen. Regisseur, Drehbuchautor und Animator Yves Netzhammer lässt all das offen. «Reise der Schatten» setzt auf einen asketischen, extremen Minimalismus. Das soll nicht bedeuten, dass es nichts zu erleben gibt. Beispielsweise Szenen, in denen Licht und Bewegung Atmosphäre und damit zauberhafte Erlebnisse schaffen, andere Szenen sind bizarr und bietet Stoff für Albträume. Der Film als Ganzes ist reine Poesie und kreiert neue Wirklichkeiten.

Eindeutige Antworten oder linear und chronologisch erzählte Geschichte sollte man nicht erwarten. Doch das Ergebnis ist grossartig, wenn man die «Reise» als Homo viator macht, die Figuren als «Schatten» versteht, die die Figuren entmaterialisieren, vergeistigen und Wahrheiten kreieren lassen. Vielleicht hilft uns der berühmte Satz von Dschalāl ad-Dīn Muhammad Rūmī, dem Sufi-Meisters aus dem 13. Jahrhundert, dem nicht alltäglichen Film etwas näher zu kommen: «Die Wahrheit ist ein Spiegel, der vom Himmel gefallen ist, er ist in tausend Stücke zersplitter, jedes besitzt einen kleinen Splitter und glaubt, die ganze Wahrheit zu besitzen.»  

Regie: Yves Netzhammer, Länge: 87 min, Produktion: 2024, Verleih: Xenix