ResetRestart

Zurück zu den Wurzeln: Ein von Korea in die Schweiz adoptiertes Kind sucht als Erwachsener seine Familie und seine Identität. Judith Lichtneckert hat mit «ResetRestart» darüber ein sympathisches Roadmovie gedreht.
ResetRestart

Mischa mit Blick auf Seoul

Mischa Steiner wird im Alter von 3 1/2 Jahren aus Südkorea in die Schweiz adoptiert. Aufkeimende Fragen zur Adoption und zu seiner Herkunft interessierten ihn jahrelang nicht. Erst mit 35 wagt er es, sich mit diesem «schwarzen Loch der Kindheit» auseinanderzusetzen und findet in seinen Unterlagen einen Brief, in dem seine Halbschwester ihm die Namen seiner Geburtseltern nennt. Er beschliesst, den offenen Fragen nun konsequent nachzugehen. Von heute auf morgen kündigt er Job und Wohnung in Basel und wandert nach Seoul aus. Eine Reise ins Ungewisse beginnt.

Judith Lichtneckert, 1970 in Basel geboren und heute in Zürich lebend, hat über ihren befreundeten Nachbarn Mischa einen Anteil nehmenden Debütfilm realisiert.

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Mischa mit seiner Adoptivmutter

Anmerkungen des Protagonisten Mischa Steiner

1972 in Südkorea geboren, wurde ich nach einem Kinderheimaufenthalt und einer Adoption im Land 1977 zum zweiten Mal, diesmal in die Schweiz, adoptiert. Da erhielt ich meinen dritten Rufnamen, Mischa, nach dem koreanischen Suk und Tom. ... Ich bin in der Meinung aufgewachsen, dass es nicht vieles über mein bisheriges Leben zu wissen gibt, habe dieses Thema immer möglichst gemieden und bin entsprechenden Gesprächen aus dem Weg gegangen. Die Erfahrung anders zu sein, hat mich das ganze Leben begleitet. ... Immer wieder bin ich aber mit intensiven Adoptions-, Selbstwert- und Identifikationsthemen in Berührung gekommen: Die Bewältigung des Anders-Seins in der Schule und pubertäre Auseinandersetzung mit den Eltern standen auf der Tagesordnung. Ausgefochten habe ich diese mit mir selbst und mit dem Ziel, zu funktionieren und nicht aufzufallen. ... Neue Erfahrungen und Schlüsselerlebnisse führten mich langsam an eine intensive Auseinandersetzung mit meiner Herkunftsgeschichte. Durch den Kontakt mit anderen Adoptierten und mit Terre des hommes gingen für mich plötzlich neue Dimensionen auf. Einerseits erfuhr ich, dass ich in Korea tatsächlich noch eine Familie habe, andererseits stiess ich in der Adoptiertengemeinschaft auf Menschen mit ähnlichem Background. Sehr überrascht hat mich die Tatsache, dass das Aufarbeiten meiner Adoptionsgeschichte vieles in meinem Innersten berührt und aktiviert hat, was ich gar nicht als vorhanden oder möglich gehalten habe.

Dank der Erkenntnis, wie gut und wichtig es für mich war, von Erlebnissen und Erfahrungen anderer zu profitieren, bin ich überzeugt, mit meiner dokumentarischen Aufarbeitung in diesem Film gleichartig betroffenen Menschen einen Beitrag leisten zu können.

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Mischa mit Foto seines verstorbenen Vaters

... und der Regisseurin Judith Lichtneckert

Auf das Thema von «ResetRestart» kam ich über Mischa. Wir sind seit vielen Jahren befreundet und fanden uns häufig bei Diskussionen zum Thema Identität. Es ging meistens um Fragen nach der familiären und umweltbedingten Sozialisation und um die Reibung, die entsteht, wenn man sich zwei Kulturen zugehörig fühlt. Obwohl meine Geschichte als ungarische Seconda und seine Hintergründe sehr verschieden sind, stiessen wir immer wieder auf Gemeinsamkeiten im Erlebten. ... Dies änderte sich Ende 2008 abrupt, als er von einer Reise nach New York zurückkehrte. Er begann seine Adoptionsgeschichte zu recherchieren und fand bald heraus, dass die Namen seiner Eltern aus seinen Adoptionspapieren ersichtlich sind und er in Korea noch eine Schwester hat. Vor dem Hintergrund dieser familiären Neuigkeiten erhielten seine Identitätsfragen eine neue Dringlichkeit. Nun wollte er der Geschichte seiner Herkunft auf den Grund gehen. Er beschloss, Job und Wohnung aufzugeben, den familiären Kokon und seine Freunde zu verlassen und nach Korea auszuwandern. ... Er konnte nicht mehr länger über Identität nachdenken, ohne sich seiner Geschichte zu stellen und mindestens zu versuchen, etwas zu erfahren und zu verstehen, auch wenn er sich dabei auf eine emotionale Achterbahn begibt. ... Seine Entschlossenheit und sein Mut, diese Auseinandersetzung jetzt konsequent anzugehen, haben mich beeindruckt, und wir beschlossen, seine Geschichte in einem Dokumentarfilm festzuhalten.

Mit «ResetRestart» laden wir die Zuschauenden ein, Mischa auf seiner Reise zu begleiten und sind gespannt auf die individuellen Exkurse, die das Publikum dabei macht.

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Mischas Halbschwester Min-Ja (2. v. r.)

Und was macht der Film mit dieser Geschichte?

«ResetRestart» (zurücksetzen, neu starten) ist vom Inhalt, also Personal und Material, und von der Form her ein kleiner Film, vom Gehalt her jedoch interessant und überzeugend. Ruhig, gelegentlich etwas langsam erzählt er ein bei uns eher seltenes, in Korea indes häufiges Schicksal: eine Adoption.

Der Akt und der Zustand der Adoption beinhaltet Entwurzelung, Verpflanzung, im Extremfall Verlust von Identität und Selbstwert. Doch solches gibt es auch in andern Situationen, ansatzweise oder vollständig, und kann eine allgemeine Lebensproblematik auslösen. Wer ist schon wirklich identisch mit sich selbst?

Die vier Kameramänner und dahinter die Regisseurin übten, einerseits gewollt, anderseits ungewollt, beim Drehen zwei Funktionen aus: Sie bewegten Mischa, seine Gefühle in Worte zu fassen, und sie störten die sich entwickelnden Gespräche gelegentlich auch. Doch sie begleiteten Mischa schliesslich an sein Ziel, seine Wurzeln, seine Heimat, zu seinem neuen Ich, von dem aus er gegen Ende sagen konnte: «Ich habe Frieden geschlossen mit meinen koreanischen Eltern.»

Auf der langen Reise nach Innen hat er Neugier, Schmerz, Glück, Trauer, Wut, Befremden, Scham und Angst erlebt. Dies hochkommen zu lassen, war für das «Roadmovie», war für Mischa und ist für ein am Thema interessiertes Publikum nötig.

Dieses Tohuwabohu der Gefühle zu zeigen, was wir alle auch kennen, zeichnet die Ehrlichkeit des Filmes aus. Gelegentlich scheint es, Mischa bewege sich in seiner Befindlichkeit auf schwimmenden Eisschollen, unsicher über einem Abgrund.

Wer bin ich? In welcher Haut lebe ich? Wer möchte ich sein? In welche Haut möchte ich schlüpfen? So etwa könnten die Fragen im Unbewussten von Mischa lauten, bis er endlich Antwort darauf findet: «Ich habe mich mit neuen Augen gesehen». Mit dieser neuen Schau wird das Allgemeinmenschliche dieses Filmes angesprochen.

In diesem Sinne ist «ResetRestart» nur äusserlich klein, innerlich dagegen schön und bedeutsam, weil er nach fundamentalen Fragen fragt – und das Publikum zum Antworten einlädt.

Regie: Judith Lichtneckert; Produktion: 2016, Länge: 88 min, Verleih: Cineworx

Internationale Adoption in Südkorea PDF