Retour à Seoul
Freddie, mit dem Stadtplan von Seoul
Die lange und komplizierte Reise, auf die uns der französischkambodschanische Regisseur Davy Chou mit Frédérique Benoît (Freddie) als Protagonistin mitnimmt, führt sie zu ihrem Vater, ihrer Mutter, sich selbst – und schliesslich auf die Suche nach unserer Identität in der Nation, im Geschlecht, in der Kultur und in der Altersgruppe.
Wie es zu diesem Film kam
Laure Badufle, eine Freundin des Regisseurs, wurde in Südkorea geboren, einjährig nach Frankreich adoptiert, kehrte mit dreiundzwanzig in ihr Geburtsland zurück, lebte dort zwei Jahre, bevor sie das Land wieder verliess. Dieser Lebenslauf motivierte Davy Chou, sich mit dem Suchen nach den eigenen Wurzeln zu beschäftigen. Denn mit ihr zusammen reiste er nach Busan, wo er dabei war, als sie zum ersten Mal ihrem leiblichen Vater und ihrer Grossmutter begegnete. Das war für ihn eine aufwühlende Erfahrung. Eine Flut von Emotionen, Trauer, Bitterkeit, Unverständnis und Bedauern, drang dabei, zum Teil mit tragisch-komischen Dimensionen, an die Oberfläche. Man hatte zwar eine Dolmetscherin dabei, doch nicht einmal ihr gelang es, die Wutausbrüche seiner Freundin mit der Höflichkeit der koreanischen Sitten wiederzugeben.
Nachdem Chou diese Situationen aus nächster Nähe erlebt hatte, beschloss er, darüber einen Film zu drehen. Heute ist Laure als Therapeutin für Adoptivkinder und -eltern tätig. Sie stand schliesslich, zusammen mit der Hauptdarstellerin Pak Ji-Min, beim Schreiben des Drehbuches und beim Drehen als Beraterin zur Verfügung, da der Autor nicht in Südkorea geboren wurde, kein Adoptivkind und keine Frau ist.
Freddie unterhält junge Kambodschaner
Start zur Reise
Schon während des Vorspanns sind sanfte, fernöstliche Klänge zu hören. Dann sehen wir die 27-jährige Freddie in Saigon in einem Hotel einchecken, und begleiten sie ab jetzt über eine Zeitspanne von acht Jahren auf ihrer Suche nach ihren biologischen Eltern. Sie wurde in Südkorea geboren, kam während des Krieges ins Ausland und wurde von einer französischen Familie adoptiert. Insert: Die Folge des koreanischen Krieges. Adoptierte Kinder in einem gecharterten Flug nach Übersee. 1958 – 2004: 221’190 Kinder. Eigentlich war es keine bewusste Absicht, eher eine spontane Laune, ihre Eltern kennenzulernen; ein Taifun zwang ihr Flugzeug in Saigon zur Landung.
Das Paar des Hotels, Tenat und Dongwan, nahm sich der Französin an. Spontan lud diese sie schon bald ins Restaurant nebenan ein, wo sie junge Leute bestens unterhielt. Dass sie am Morgen neben sich im Bett einen Jungen findet, illustriert etwas ihr Motto, «vom Blatt zu spielen», nämlich spontan sich auf Neues einzulassen. Tenat jedoch nimmt Freddies Bemerkung, ihre Eltern suchen zu wollen, ernst und weist sie an das Adoptionszentrum «Hammond». Hier beginnt ihre lange Reise.
Vorne der Vater, hinten Freddie und Tenat
Auf dem Weg zum Vater
Bald schon erfährt sie ihren Geburtsnamen, Yeon-Hee, Son Mija jenen der Mutter und Yeon-Hee des Vaters. Er wohnt jetzt in Gunsan, sie in Jeonju. Doch auf ihre grosse Frage «Wieso?», was war der Grund für ihre Adoption, erhält sie von niemandem eine Antwort.
Nach Schwierigkeiten findet sie ihren Vater. Doch dieser kümmert sich vor allem um seinen Schmerz und seine Trauer wegen der Adoption, die durch die Politik verursacht wurde und jetzt, von der Grossmutter erbeten, vom christlichen Gott verziehen werden soll. Zu einer Begegnung auf Augenhöhe kommt es nicht. Vehement verteidigt er seinen Wunsch, sie zurückzubekommen und im Land zu verheiraten. Der Aufenthalt wird zu einer eigentlichen Sightseeingtour in Vaters Vergangenheit. Bald schon steigt Freddy in ein Taxi und fährt weg. Krampfhaft musste sie sich bei diesem Treffen von den Identitäten lösen, die ihr Familie und Nachbarn verpassen wollten.
Tenat, Freddie und ihre Halbschwestern
Auf Umwegen zur Mutter
Zwei Jahre später, an ihrem 27. Geburtstag, ist Freddie wieder in Seoul, diesmal in einer Bar, für ein Date mit einem älteren Waffenhändler, vielleicht auch für einen möglichen Job bei ihm. Beides erfolglos, obwohl sich beide ähnlich sind und die ganze Welt ni«Like Father, like Son»edermachen möchten. Bis hierher verfolgt sie ihr Vater, was im Streit endet. Dann taucht sie ein in die Unterwelt Saigons, befreundet sich mit dem Künstler Kaj-Kaj, der sie mit einer Geburtstagsparty überrascht.
Nach sieben Telegrammen, die das Institut in zwei Jahren an die Mutter geschickt hat, antwortet diese mit 22 Wörtern, dass sie die Tochter nicht sehen will. Wie an all ihren Geburtstagen quält Freddie auch jetzt die eine Frage: «Denkt meine Mutter an mich?». Dann erhält sie vom Vater und den beiden Stiefschwestern eine Geburtstagskarte.
Fünf Jahre später kommt sie mit ihrem neuen Freund Maxim ins gleiche Hotel wie beim ersten Besuch. Sie hört vom Waffenhändler von einem möglichen gemeinsamen Deal und dass er mit seinen Waffen Südkorea gegen Nordkorea helfe. Wieder taucht sie ins Quartier der jungen Leute ab. Doch völlig unerwartet kommt vom «Hammond» ein Anruf, ihre Mutter wolle sie sehen. ...
In Saigons Unterwelt
Auf dem Weg zu sich
Wieder ein Jahr später, wieder am Geburtstag, versucht sie es allein, als Tramperin, ihre leibliche Mutter zu treffen. Dann schickt sie ihrer Mutter in Frankreich eine SMS: «Ich glaube, ich bin glücklich» ...
Davy Chou liebt es, so scheint es in diesem wie auch seinen andern Filmen, Langzeitgeschichten zu erzählen. Damit will er wohl das Leben festhalten und langsam ablaufen lassen – und lädt damit auch uns Zuschauende zu einem langsameren Wahrnehmen des Lebens ein, weit weg vom Actionfilm, der die Zeit frisst und nicht erfüllt – demonstriert an einem Thema, das nicht nur Adoptierte auf ihrer Suche nach dem Ursprung, sondern uns alle betrifft.
Annäherung an Fremde und damit auch sich selbst
Musik, die Kommunikation erweitert
Die gestörte Kommunikation zwischen den Figuren in «Retour à Seoul» wird immer wieder durch Musik erweitert. Diese drückt aus, was mit Französisch, Koreanisch und Englisch nicht gelingt, beantwortet, was gesprochen auf der Strecke bleibt. So in der Szene, in der Freddie vor Tenat tanzt. Hier ist sie frei von negativen Emotionen, vollkommen bei sich, kann sich von fremden Identitäten befreien, behauptet sie sich in purer Freude und absoluter Kraft in ihrer eigenen Identität.
An einer anderen Stelle spielt Freddies biologischer Vater, der sich in der Zwischenzeit stark verändert hat, aus seinem iPhone eine eigene Komposition vor, womit er ihr mitteilt, was er ihr nicht mit Worten sagen kann. Danach wagt er sogar, ihre Wunde am Hals, die sie sich bei einem Unfall zugezogen hat, zu berühren: eine Berührung, die noch mehr sagt als Worte und Musik.
Nachbemerkungen
Aufgefallen sind mir in letzter Zeit immer wieder Spielfilme, die sich mit der Identitätssuche befassen. Ob dies eventuell daher kommt, dass diese Filme die durch die Psychologie der letzten hundert Jahre differenzierten und erweiterten Menschenbilder verwenden? Aktuell im Film «Before, Now & Then» von Kamila Andini oder demnächst im Kino in «Close» von Lukas Dhont, oder in etwas veränderter Ausrichtung in «Like Father, like Son» von Hirokazu Kore-eda.
Als geniale Ausnahme steht hier wohl «À la recherche du temps perdu» von Marcel Proust, ein Werk, das zwischen 1913 und 1927 entstanden ist, das zeigt, wie grosse Dichtung immer schon der Zeit voraus ist. Prousts Sich-Erinnern geht in die eigene Vergangenheit, Davy Chous Erinnern in das Sich-Erinnern auch der für das eigene Leben wichtiger andern Personen, etwa der Eltern.