Sage-Homme

Wie Léo eine Hebamme wurde: Im Spielfilm «Sage-homme» taucht die Regisseurin Jennifer Devoldère breitflächig ins Hebammen-Sein ein: unterhaltsam, informativ, feministisch und tief menschlich: Ein Thema, das neben Krieg und Wirtschaft viel zu selten im Kino stattfindet. Ab 7. September im Kino
Sage-Homme

Der Schüler Léopold (Melvin Boomer) und die Lehrmeisterin Nathalie (Karin Viard)

 

Der 19-jährige Léopold fällt bei der Aufnahmeprüfung zum Medizinstudium durch, beschliesst deshalb, in die Hebammenschule zu gehen, um später wieder in die Medizin quereinzusteigen. Vor seiner Familie, vorab seinem Vater Jof muss er aber die Wahrheit verschweigen, denn diese wartet auf einen Arzt in der Familie. Während er sich ohne grosse Begeisterung auf dieses ausschliesslich weibliche Milieu einlässt, erlebt er einige Enttäuschungen, bis er durch die Begegnung mit Nathalie, der erfahrenen Hebamme, die für seine Ausbildung zuständig ist, seinen Blick auf diese faszinierende Welt öffnet.

 

Weil die Story viele Klischees, die gesellschaftlich über diesen Beruf herrschen, zur Diskussion stellt, entstehen zahlreiche komische Situationen und es entsteht ein unterhaltsamer, doch stets einfühlsames und kritisches, feministisches und tief menschliches Melodrama. Nur schon spontane Fragen machen Ungereimtheiten und Widersprüche unterschwellig oder offen sichtbar: in Léos Familie, seiner Umgebung und in unserer Gesellschaft. – Doch allein schon die Tatsache, dass Jennifer Devoldère diesen Film vollumfänglich dem Thema der Hebamme widmet, ist ihr grosses Verdienst mir den Bildern einer Gegenwelt zu die Medien füllenden Kriegsfilme.

 

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Rosa oder blauer Kittel?

 

Vom Champion zum Looser

 

Bei den Prüfungen kommt Léo auf Platz 511 und damit ausserhalb des Quorums, dass mit dem Medizinstudium weitermachen kann. Wie auch anderen bleibt ihm als Ausweg die Ausbildung zur Hebamme. Für ihn bedeutet dieser Entscheid doch etwas Fundamentales, denn sein Vater Jof, sein Schwager Prince und die ganze Verwandtschaft haben gehofft, dass er Arzt, also Champion wird. Doch jetzt ist er ein Looser, erschwerend für ihn, dass er die Wahrheit nicht sagen darf, eine Mutter ist nicht da.

 

So beginnt die Ausbildung an der Hebammenschule. Zum Beginn erklärt die Rektorin, dass ihre Berufsbezeichnung,  «Sage-femme», von «sapiens», dem Menschen mit dem Wissen und der Erfahrung kommt und «femme» umschreibt, dass sie sich um die Frau zu kümmern haben. Was mit andern Worten sagt, dass Frauen und Männer diesen Beruf ausüben können.

 

Schwieriger Einstieg

 

Als Léo wie allen Schülerinnen einen rosa Kittel erhält und anziehen soll, wehrt er sich; er will den blauen Kittel der Volontärärzte. Seine Vorgesetzte meint dazu, dass dieser nicht seine Männlichkeit töte, sondern lediglich der Identifikation dient. Missmutig gibt er nach und hat einige subalterne Arbeiten zu verrichten. Bald folgt das erste Zwischenzeugnis mit vernichtenden Noten, obwohl er, wie es heisst, die beste Lehrerin des Hauses zugeteilt bekommen hat, nämlich Nathalie.

 

Mit ihr, die eine 25-jährige Erfahrung und grosse menschliche Reife mitbringt, kommt er nun, zusammen mit den andern Schülerinnen Schritt um Schritt in die neue Welt. Er Theorien, übt sich in der Praxis und wird ihr zusammen an die Frauen herangeführt. Dabei erlebt er Kritik, mehr und mehr aber auch Lob und spürt auch Zuneigung von seiner Lehrerin. Und so kommen mit ihm und in ihrer Begleitung Kinder auf die Welt: Nathan, Ulysses, Alm, Louisa, Tom ...

 

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Léos kompetente und einfühlsame Lehrerin

 

Ein innerer Kreis

 

Von den Kolleginnen steht ihm Fatou am nächsten, mit ihr sich anfreundet, in die er sich verliebt. Sie ist hier, weil ihre Mutter Krankenschwester war und für sie die Entbindungsstation mit mehr guten als schlechten Neuigkeiten sei und wo jeder Tag anders verlaufe. Er erlebt es ähnlich mit seinem Vater. Dieser will mit der Waffe, er möchte mit dem Skalpell Leben retten. Bei seinen ersten Begegnungen mit den Müttern, seinen ersten vaginalen Untersuchen ist er herausgefordert, reift aber schnell und verrät viel Einfühlungsvermögen und Takt.

 

Nebenbei lernt er auch Nathalie besser kennen: Sie hat drei Kinder von drei Männern, aber wenig Familienkontakt. Ihre Situation scheint ihm nicht fremd. Für Léos Vater existiert seine Mutter nicht. Indem die beiden sich näher kommen, als Fachfrau und Mensch, wird Léo offener und weicher, aufnahmefähiger, menschlicher. Indirekt werden ihm auch die institutionellen und organisatorischen Hintergründe einer Geburtsklinik bewusst und lernt er die konflikthaften Beziehungen zwischen Pflegenden, Hebammen und Ärzten kennen. Es wird offenbar, dass es schiefläuft, wenn Hierarchien zu stark sind, wenn Reglemente und Gesetze, nicht Menschenverstand und Verantwortung als oberste Instanz regieren. Léo erlebt mit Nathalie eine Geburt mit vier Händen: eine tief bewegende, menschlich ihn berührende Erfahrung, die auch noch nachwirkt, als es mit mit seiner  Freundin im Bett nicht klappt, nachdem er den ganzen Tag Vaginas angestarrt habe.

 

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Ein Sage-homme als Sage-femme

 

Mensch-Sein heisst Hebamme-Sein

 

Léo versucht, mit seinem Vater ins Gespräch zu kommen, um über die Geburten seiner Geschwister mehr zu erfahren. Da trifft ihn sein Schwager Prince, der mit seiner schwangeren Frau ins Spital gekommen ist. Der familiäre Konflikt spitzt sich zu. Als er bei anschliessen notfallmässig die Geburt leitet, lösen sich die Konflikte auch in der Familie. Zu einem dramatischen Einsatz kommt es für ihn, als bei einer Mutter nach der Geburt das Blut nicht mehr gestillt werden kann, bei dem er sich erfolgreich mitwirken kann, was für Nathalie Folgen hat. Von ihr hört er Worte, die ihm helfen, ihn reifen lassen: Die Geburt sei ein Prozess der Trennung. Wir trennen uns vom Kind, das wir waren, um für das Kind Platz zu machen, das wir bekommen. Eine Geburt schiebt die vorherigen Generationen in Richtung Tod. Und wenn eine Frau ein Kind zur Welt bringt, spürt sie ihren eigenen Tod. Unser Beruf besteht also darin, die Frau dort abzuholen, wo sie sich befindet. Es gilt, die Frau zurück ins Leben zu holen. Aus solchen Worten seiner Lehrmeisterin nimmt er mit, was er für den Beruf, aber auch zum Leben braucht.

 

Am Schluss meint Léo, dass die Erfahrungen, die er in diesem Jahr mit den Gebärenden und mit Nathalie machte, sei für ihn eine Ehre gewesen. Wie die Geschichte endet, lasse ich offen; dramaturgisch wurden alle Fäden zusammengeschnürt; unter der Regie von Jennifer Devoldère und unterstütz von der Kamera von Jean-François Hensgens, dem Schnitt von Virginie Bruant und der Musik von Dim Sum. – Für mich heisst die Botschaft dieses Films: Hebamme-Sein heisst Mensch-Sein, was sowohl für Frauen und Männer gilt.

 

Nachtrag: Der Schweizer Dokumentarfilm «Hebammen – Auf die Welt kommen» von Leila Kühni erzählt Geschichten von Schwangerschaften und Geburten und schafft durch ihre informativen, anteilnehmenden und ganzheitlichen Schilderungen einen Hymnus auf das Leben: eine wertvolle Weiterführung zum "Sage-Homme". Der Schweizer Dokumentarfilm ist höchst wertvoll und schön für ein interessiertes, motiviertes Publikum; der französische Spielfilm ist zu empfehlen für ein breites, allgemeines Publikum. 

 

Regie: Jennifer Devoldère, Produktion: 2023, Länge: 104 min, Verleih: Frenetic