Saint Omer

Geschichte einer Phantomfrau: Die Professorin Rama reist für einen Gerichtsprozess nach Saint Omer, um über das Verbrechen zu schreiben. Laurence Coly ist des Mordes an ihrem 15-monatigen Töchterchen angeklagt, Verdikt schuldig. Im Laufe der Verhandlungen gerät diese Gewissheit ins Wanken. Die französische Regisseurin Alice Diops stellt in ihrem brillanten Debütfilm «Saint Omer» radikale Fragen nach der Schuld. Ab 2. März im Kino
Saint Omer

Laurence Coly, die Angeklagte

Inspiriert von einer wahren Begebenheit erzählt die vielfach ausgezeichnete Filmemacherin Alice Diops in «Saint Omer» von Brüchen in den Biografien zweier gegensätzlicher Migrantinnen. Der intelligente, packende und herausfordernde Film stellt universelle Fragen zum Urteilen, zur Mutterschaft und zur Wahrheit. Der Justizthriller wurde in Venedig mit dem Silbernen Löwen ausgezeichnet und von Frankreich ins Oscar-Rennen geschickt. – Das Interview, das die Schriftstellerin Hélène Prappat mit der Regisseurin gemacht hat, erzählt, wie es zum Film kam, und Aufklärendes über den Film, nachfolgend als Ausschnitt, im Anhang integral.

Die Regisseurin Alice Diops zur Vorgeschichte

«Alle meine Filme entstehen aus einem Gefühl heraus, einer Intuition, die wächst und wächst, bis es Besessenheit wird und der Film geboren wird. Ich sage nie: "Hey, dieses Thema ist interessant." Es kommt stets von etwas, das auf eine intime Geschichte zurückgeht, manchmal etwas, das schon lange Zeit unerzählt war. Für "Saint Omer" kommt die Besessenheit von einem Foto, das 2015 in "Le Monde" veröffentlicht wurde.

Ein Schwarz-Weiss-Bild, aufgenommen von einer Überwachungskamera: Eine schwarze Frau schiebt im Gare du Nord einen Kinderwagen mit einem eingewickelten Baby. Ich sah das Foto und dachte: "Sie ist Senegalesin!" Zwei Tage zuvor war in Berck-sur-Mer ein Baby gefunden worden, von den Wellen angespült. Niemand wusste, wer dieses Kind war, Journalist:innen und Ermittler:innen vermuteten, dass es aus einem Migrantenboot stammt. Man fand einen Kinderwagen im Gebüsch und konnten ihn anhand der Überwachungskameras mit dem Mischlingskind zurückverfolgen. Ich sehe sie an, ich weiss, dass sie Senegalesin ist, ich weiss, dass wir gleich alt sind, ich kenne sie so gut, dass ich mich in ihr wiedererkenne. So beginnt die Besessenheit für diese Frau.

Ein paar Tage später erfahren wir, dass es sich tatsächlich um eine Senegalesin handelt, die ihr Baby getötet hat, indem sie es bei Flut am Strand zurückgelassen hat. Sie hat gestanden. Ich höre ihrem Anwalt zu, und sofort kommt die Frage der Hexerei zur Sprache. Ich erfahre, dass sie eine Doktorandin* ist. Die ersten Kommentare der Presse heben ihren IQ von 150 hervor. Doch sie sagt, ihre Tanten im Senegal hätten sie verhext, was ihre Tat erklären würde. Für mich passt einiges nicht zusammen. Zugleich frage ich mich, warum alle eine solche Sache daraus machen, dass sie sehr redegewandt, eine Akademikerin ist. Schon beim ersten Versuch, ihre Geschichte zu konstruieren, höre ich eine Summe journalistischer Projektionen auf diese Frau niederprasseln. Der Prozess fand 2016 statt. Ich beschloss hinzugehen. Ich weiss nicht, wie ich diesen verrückten Akt beschreiben kann: zum Prozess einer Frau zu gehen, die ihr 15 Monate altes Baby getötet hat, obwohl ich selbst junge Mutter eines Mischlingskindes bin.»

* Sie arbeitet an einer Arbeit über Ludwig Wittgenstein, dessen Diktum «Wovon man nicht sprechen kann, darüber muss man schweigen», vielleicht gerade in dieser Geschichte mitgedacht werden sollte.

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Rama, auf dem Weg zum Prozess

 

Vom Gerichtssaal ...


Die erste Person, die wir im Spielfilm der französischen Dokumentaristin kennenlernen, ist Rama (Kayije Kagame). Sie lehrt an der Universität und beobachtet den Prozess für ihr neues Buch, in dem sie sich dem Kriminalfall über die antike Medea-Sage nähern will. Denn ähnlich wie die mythologische Figur der Medea bleibt auch Laurence Coly (Guslagie Malanda) nach ihrem Umzug nach Frankreich eine Fremde und Aussenseiterin, lässt sich auf eine ungleiche Beziehung mit einem Einheimischen ein und tötet schliesslich aus Verzweiflung ihr gemeinsames Kind.

Wie eine Theateraufführung wird die Verhandlung über diesen Kriminalfall in präzisem Minimalismus inszeniert. Geduldig verharrt die Kamera auf einzelnen Darsteller:innen: der anteilnehmenden Richterin (Valérie Dréville), der behutsam handelnden Anwältin (Valérie Dréville), dem Ankläger (Robert Cantarella), den Geschworenen und Laurence Coly, die sich in ausführlichen Statements über ihr von Entfremdung, Isolation und Auflösung geprägtes Leben äussert.

Was Rama an dieser Geschichte interessiert, bleibt anfänglich noch unklar. Trotzdem entwickelt sie durch ihre mächtige Statur und ihr eindrückliches Gesicht eine fesselnde Präsenz. Man sieht Ergriffenheit und Angst in ihrem durchdringenden Blick, ohne die Ursache dafür schon zu kennen. Lange bleibt sie passiv, wie ein Medium, durch das man die Ereignisse wahrnimmt. Erst gegen Schluss, nach dem Plädoyer ihrer Anwältin, erlebt man, wie die Geschichte von Laurence in Rama weiterlebt.

Wenn Rama am Anfang des Films an ihrer Vorlesung über «Hiroshima mon amour» von Marguerite Duras referiert und feststellt, dass die traumatische Erfahrung der Romanheldin in ein lyrisches Lied mündet, greift der Film dies mit dem Nina-Simone-Song «Little Girl Blue» am Schluss wieder auf. Wie das Lied verbreitet der Film eine diffuse, dumpfe Traurigkeit.

... über den Mythos ...

Die Filmstory erinnert an ähnliche Geschichten von der Antike bis in die Gegenwart: in Theater, Oper, Ballett, Musik, Malerei und Film, deren Künstler:innen den Mythos der Medea vielfältig aufarbeiten, so beispielsweise Pierre Corneille, Peter Paul Rubens, Luigi Cherubini, Christa Wolf, Bertolt Brecht, Paul Cézanne, William Turner, Mikis Theodorakis, Pier Paolo Pasolini, Lars von Trier.

In der Neuzeit hat die Psychoanalyse das Thema durchleuchtet, und die «Medea-Sage» gedeutet als mythischen Ausdruck des Todeswunsches von Müttern gegen ihre Kinder, der dem Bedürfnis entspringt, sich am Vater der Kinder zu rächen. Der «Medea-Komplex» verstanden als ein mehr oder weniger jeder Mutter innewohnender Impuls. Als «Medea-Syndrom» bezeichnet: die Rache von Medea, die ihre Kinder tötete, um deren Vater Iason zu bestrafen, weil dieser sie verlassen hatte.

Die gesellschaftliche Deutung des Films als Medea-Geschichte, an deren Erforschung Rama wissenschaftlich arbeitet, gibt dem Film eine neue, wenn auch nicht immer leicht zu erklärende Dimension. In «Saint Omer» geht es also nicht darum, wie im alltäglichen Krimi, den Mörder zu finden und zu überführen, sondern um den mäandrierenden, bohrenden Prozess des Suchens nach der kaum zu formulierenden Wahrheit, welche Rama, stellvertretend für Laurence, im Lauf der Handlung stets intensiver durchlebt und durchleidet.

Saint Omer 1
Rama bleiben nur Fragen

... zurück in die Gesellschaft

Solche Fragen stellt der Filme, bleibt aber vage. «Saint Omer» erweist sich wie ein Puzzle, bei dem einige Teile fehlen, das Bild sich aber trotzdem erahnen lässt. Erschütternd ist gegen Schluss des Prozesses die Rede der Anwältin. In einer durchgehenden Naheinstellung spricht sie in die Kamera und adressiert so die Anwesenden im Gerichtssaal und uns im Kinosaal mit einer Rede, die weit über den Einzelfall hinausgeht und das Fragen selbst hinterfragt: Wie können wir mit unserem begrenzten Wissen über einen solchen Fall urteilen? Können wir Mutterschaft oder andere individuelle Erfahrung jemals begreifen, ohne sie selbst erlebt zu haben? Und wie gehen wir damit um, wenn wir keine umfassende, verbindliche, gültige Antwort finden? Vielleicht wird hier Laurence Coly, stellvertretend für andere Frauen, und Rama, als deren Nachfolgerin, zur «Phantomfrau».

«Saint Omer» ist Kino, das die Komplexität des Lebens und der Welt zu zeigen versucht, die nur verstanden werden kann, wenn wir uns ihren Feinheiten öffnen, ihre Widersprüche ertragen und uns darauf einlassen, sie auf uns wirken zu lassen – als unsere Wahrheit.

Interviewe mit Alice Diops / Die Hauptpersonen des Films

Regie: Alice Diop, Produktion: 2022, Länge: 122 min, Verleih: Cineworx