Schellen-Ursli

Ein neuer echter «Schellen-Ursli»: Der Schweizer Oscar-Preisträger Xavier Koller (71) hat das berühmte, von Selina Chönz geschriebene und Alois Carigiet illustrierte, Kinderbuch adäquat in einen heutigen Film umgesetzt.
Schellen-Ursli

Der «Schellen-Ursli» lebt seit 70 Jahren – und wohl noch lange weiter.

Als Kinder hörten die meisten von uns die Geschichte, als Eltern erzählten wir sie weiter und verschenkten das 1945 erschienene Bilderbuch «Schellen-Ursli», das deutsch bis heute in 28 Auflagen erschienen und in 13 Sprachen übersetzt worden ist. Ein Welterfolg zweifellos, und wenn ich mich nicht täusche, wird künftig der gleichnamige Film von Xavier Koller einen ähnlichen Weg machen und neue Generationen erfreuen. Zu gönnen wäre es dem rundum gut gemachten Film über das, nach «Heidi», bekannteste Schweizer Kinderbuch, das auch Erwachsenen gefällt.

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Uorsin und seine Eltern Luisa und Linard

Ein Junge, der auszog, um sich zu wehren, kehrt glücklich heim

Spätsommer auf einer Alp im Unterengadin. Uorsin, wie der Schellen-Ursli auf Rätoromanisch heisst, seine Eltern, seine Freundin Seraina und deren Eltern führen ein hartes, doch idyllisches Leben in einer wunderschönen Landschaft. Besonders stolz ist Uorsin auf sein Zicklein Zila, bei dessen Geburt er dabei war, und auf die riesige Glocke, die im Maiensäss hängt. Da geschieht beim Alpabzug ein Unglück und ein Grossteil der Ernte geht verloren, was die Familie hart trifft. Sie können dem Dorfkrämer Armon ihre Schulden nicht mehr zurückzahlen, da der ganze Alpkäse verloren ist. Was sie nicht wissen: Armon konnte die meisten Käselaiber aus dem Bach fischen und verkaufte sie heimlich. Sein Sohn Roman musste ihm das Ehrenwort geben, niemandem davon zu erzählen, wofür ihm der Vater seinerseits etwas «Grosses» versprach.

Der Winter ist gekommen. Dieses Jahr feiert Uorsins Familie nur mit wenigen Geschenken Weihnachten, es fehlt an allem. Schweren Herzens entscheidet sich die Mutter, das Dorf zu verlassen, um in der Stadt Geld zu verdienen. Roman, der auf Uorsin und dessen Freundschaft mit Seraina eifersüchtig ist, fordert von seinem Vater, sein Versprechen einzulösen, er will etwas «Grosses»: Uorsins Zicklein. Für diesen aber bricht eine Welt zusammen, denn Zila ist sein ganzer Stolz. Auch Seraina ist traurig, dass ihr Freund das Zicklein abgeben muss. Versehentlich erzählt Roman, dass es ein Geheimnis gebe, weshalb sein Vater ihm Zila geben musste. Die Freundin vermutet sogleich, dass es mit dem verlorenen Käse zu tun hat. Um hinter das Geheimnis zu kommen, entführt sie Zila und versteckt sie bei sich zu Hause. Roman ist fest überzeugt, dass Uorsin dahintersteckt, und verlangt jetzt die grosse Glocke, die Onkel Gian jedoch extra für Uorsin angefertigt hatte. Roman hat nun die grösste Glocke für den Chalandamarz-Umzug, für Ursli bleibt nur noch eine kleine Schelle. Am meisten kränkt ihn aber, dass er nun von allen Kindern als «Schellen-Ursli» verlacht wird. Um allen zu zeigen, zu was er fähig ist, versucht er etwas fast Unmögliches: Er macht sich auf den Weg, die grosse Glocke vom Maiensäss zu holen. Beobachtet wird er bei seinem strapaziösen Gang vom Wolf, mit dem er sich im Sommer auf der Alp angefreundet hat. – Wie es weitergeht, sei hier nicht verraten.

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Seraina, Zila und Uorsin: das junge Dreigespann

Ein rundum gelungene moderne Verfilmung

Wie es einem Oscar-Preisträger ansteht, hat Xavier Koller zusammen mit Stefan Jäger ein Drehbuch geschrieben, das harmonisch Szene an Szene fügt, Stimmungen und Dramatik rhythmisch wechselt, die Geschichte des Buches mit logisch und psychologisch stimmigen Details ergänzt, dass es heutige Kinder und Erwachsene spannend unterhält. Dafür hat er die Kinder Jonas Hartmann als Uorsin, Juli Jeker als Sereina und Laurin Michael als Roman professionell geführt, dass sie uns glaubhaft in ihre Welt mitnehmen. Auch die Erwachsenen stehen diesen in nichts nach: Marcus Signer als Vater mit veritablem Bündner Akzent, Leonardo Nigro als genussvoller Bösewicht. Wohltuend ergänzt werden sie durch zwei Bündner Urgesteine: Maria Zindel als sorgende Mutter und Andra Zogg als strenger, doch verständiger Vater. Auch alle Nebenrollen sind ohne Fehl und Tadel gespielt, die Gruppen gut choreografiert. Ebenso stehen auf der Produktionsseite eine sorgfältige und fantasievolle Kameraarbeit von Felix von Muralt, eine spannende und kluge Montage von Gion-Reto Killias und eine stimmige Musik von Martin Tillmann samt poetischem Titelsong von Linard Bardill. Aus dem Bilderbuch von Selina Chönz und Alois Carigiet aus dem Jahr 1945 wurde ein Film für das Publikum von 2015, der zeitgemäss ist und dennoch den Gehalt des Buches gut herüberbringt.

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Auch Böse gehören in ein Märchen: der Krämer Armon und sein Sohn Roman

Anmerkung des Regisseurs

«Wie die meisten Menschen meiner Generation bin auch ich als Kind mit dem Schellen-Ursli aufgewachsen. Er war einer der ersten Helden meiner Kindheit: Der kleine Junge, der sich nicht damit abfinden will, dass er zum Gespött der anderen Kinder wird und daraufhin auf tollkühne Weise die riesige Glocke aus dem Maiensäss holt.

Welches Kind erlebt nicht irgendwann Demütigungen, sei es, dass es das Kleinste, Jüngste, Langsamste oder einfach nur anders ist. Und welches Kind träumt daher nicht davon, es einmal allen zu beweisen, um seinen Stolz zu wahren und die gewünschte Anerkennung zu erhalten? In diesem Sinne ist die Geschichte von Selina Chönz und Alois Carigiet universell und zeitlos. Genauso universell und zeitlos wollte ich diese Geschichte umsetzen. Wir sind der Vorgabe der Bilder von Carigiet gefolgt, um den Film stilistisch zu überhöhen: eine Intention, die sich auch in den Zeichnungen im Bilderbuch wiederfindet.

Die Entscheidung der Produzenten und der Autorenschaft, die Geschichte im ursprünglichen Universum von Chönz und Carigiet und damit in einer nicht präzis festgelegten Vergangenheit spielen zu lassen, halte ich für absolut richtig. Sie unterstützt die Universalität und Zeitlosigkeit der Geschichte und verleiht ihr auch den wunderbaren (Märchen-)Charakter.»

Regie: Xavier Koller, Produktion: 2015, Länge: 100 min, Verleih: Frenetic