Service inbegriffe
Eric Bergkraut, einer der wichtigsten Dokumentaristen des aktuellen Schweizer Kinos, nimmt uns in seinem neuen Film «Service inbegriffe» auf eine Reise mit zu fünf Beizen, an Orte, die den Zwängen der Globalisierung noch widerstehen. Mit liebevollem Blick auf die Menschen stellt der Film uns Beispiele von Heimat vor: auf dem Land, in der Stadt, an der Peripherie, im Zentrum. Wir besuchen je eine Beiz auf einem Berg im Appenzell, im Val de Travers, in Biasca, im HB Zürich und in Altstetten.
«Ich habe für meine Filme oft starke Geschichten gesucht. Diesmal war es anders: Wir wählten Schauplätze und Figuren und hatten keine Ahnung, was geschehen würde. Ausser dass wir ein Jahr lang hierhin wiederkehren würden», erzählt Bergkraut. «Der Zufall war zu Beginn unser Co-Pilot. Ich wagte das, weil die Beiz eine Bühne des Lebens ist, ein Ort der Zuflucht oder des Absturzes, und weil ich wusste, dass die Gaststätten ein Bild des Landes geben. Was wir fanden: Beizen als offene Häuser in einer Welt der verschlossenen Türen, Beizen als Schiffchen im Wind, Wirtinnen als Mütter der Nation. Es verblüffte mich, was wir bei unserer Exkursion alles entdeckt hatten: Menschen und Landschaften, die ich so nicht kannte.» Und so geht es wohl allen, die der Einladung des Films Folge leisten.
Bei Marlies Schoch auf der «Hundwiler Höhe»
Seit über vierzig Jahren ist Marlies Schoch die Wirtin der «Hundwiler Höhe», früher war sie Lehrerin und Politikerin, immer Aktivistin und Menschenfreundin. Die «Landesmutter», die «beste Wirtin der Nation», die «bekannteste Beizerin der Schweiz». Marlies begrüsst in ihrer Bergbeiz alle gleich, ob Bundesrat, Firmenboss oder Büezer. Für alle ist sie da, hört zu, 365 Tage im Jahr. Die Beiz ist auch ihr privates Wohnzimmer und gelegentlich Heimat für Heimatlose. Sie erzählt emotionale und intime Geschichten. Gekocht werden die währschaften Gerichte mit Gas und auf dem alten Holzofen. Zu ihr auf den Berg kommt man nur zu Fuss.
Bei Yolande Grand, Wirtin des «Hôtel de la Poste»
Yolande Grand wurde im Wallis geboren, zog als Jugendliche mit ihrer Familie nach Fleurier im Val de Travers, wo die Eltern das «Hôtel de la Poste» übernahmen. Hier lernte sie vor über einem halben Jahrhundert ihren Mann André kennen. Die beiden waren das «dienstälteste Wirtepaar des Kantons Neuenburg», bis er kurz nach Ende der Dreharbeiten verstarb. Sie bleibt Wirtin, denn für sie ist es kein Job, sondern eine Bestimmung. In diese Beiz, ihr öffentliches Wohnzimmer, das sie mit den Gästen teilt, kommen die Menschen, um ihr Herz auszuschütten und Rat zu holen. Ihre Offenheit und Spontaneität macht Mut, gibt Zuversicht.
Das «Caffè Papa» in Biasca, das «Transit» in Altstetten und das «Atrio» im HB Zürich
Luciano, der Beizer des «Caffè Papa», führt den Betrieb seines Vaters mit Leidenschaft. Er gilt als letztes Nest im alten Biasca mit widerständigen, etwas anarchistischen Leuten. Hier sind es vor allem die Männer, die miteinander palavern und eine verschworene Gemeinschaft bilden.
Im «Transit» in Altstetten bringen zwei Junge multikulturelles Leben in ihre Quartierbeiz. Dani, der daneben in einem Kinderhort arbeitet, und Kathrin,die Landschaftsarchitektin ist, kannte der Regisseur schon aus der Zeit, als sie in einem ehemaligen Eisenbahnwagen wirteten.
Und im HB Zürich, wo für viele die grosse Welt beginnt, gibt es das traditionsreiche Lokal «Atrio». Hier sind es weniger die Kellner, als vielmehr einige regelmässige und viele zufällige Gäste, die sich gegenseitig für ein paar Augenblicke Intimität und Freundschaft geben.
Aus meinem Gespräch mit Eric Bergkraut
Wie kamst du auf die Idee, den Film «Service inbegriffe» zu drehen?
Ich gehe selber gerne in Beizen. Die Beiz, verstanden als Bühne des Lebens, als halböffentlichen Raum, der es dem Menschen erlaubt, etwas anders zu sein als sonst. Das hat mich immer schon angezogen. Das Faszinosum der Gastgeber auch, die Räume zum Leben schaffen. Manchmal gehe ich auch dorthin, um zu lesen, «allein unter Menschen», wie Peter Bichsel es beschreibt.
Am Anfang bestand die Idee, einen Film mit Beizen auf der ganzen Welt zu drehen. In meiner Stammbeiz in Paris hatte ich bereits gefilmt. Doch dann entdeckte ich, dass es in der Schweiz genügend interessante Orte gibt. Vor drei, vier Jahren wurde daraus das Filmprojekt.
Worin bestanden die Herausforderungen beim Filmen?
In einer Beiz zu drehen, authentisch zu sein, dem Zufall Raum zu lassen, war technisch und menschlich die grosse Herausforderung. Wir verwendeten keine Leuchten. Der Kameramann Pio Corradi spielte dennoch meisterhaft mit dem Licht und komponierte Bilder, ohne dass man das Gefühl bekommt, sie seien gestellt. Er war fast unsichtbar und dennoch total präsent. Grosses Verdienst am Gelingen hatte auch Stephan Pauly, der Tonmeister. Es war nicht nötig, das Mikrofon in einem Blumenstrauss zu verstecken, die Leute akzeptierten jederzeit den Mikrofongalgen. Im Ganzen galt es, dem Undramatischen eine sinnvolle Dramaturgie zu geben.
Beim Dreh gab es kein «On/Off» und hiess es nie «Kamera läuft!». Wir wollten Authentizität und Nähe. Beizen sind die Arena, in der das Leben stattfindet. An allen fünf Orten habe ich dies erlebt. Vor allem bei den älteren Wirtinnen. Wie sie in der Welt stehen und Menschlichkeit ausstrahlen.
Beizen sind für viele Menschen die zweite Heimat, für einige die erste. Solch offene Häuser haben mich immer interessiert. Marlise Schoch wirkt auf mich in ihrer Offenheit wie eine Ur-Christin, die jeden Menschen nimmt, wie er ist, annimmt und aufnimmt. Und dies im Zeitalter professionalisierter Kommunikation, von der eine ganze Industrie lebt.
Was verstehen die Menschen im Film unter Erfolg?
Das ist eine gute Frage im Zeitalter der Ökonomisierung aller Lebensbereiche. Die vorgestellten Beizen sind zum Teil extrem unökonomisch organisiert. Wenn ein Gastro-Profi etwa in die Küche von Marlies Schoch käme und nach deren Effizienz schaute, würde er ihr wohl schlechte Noten geben. Offensichtlich geht es hier um etwas anderes. Toleranz gegenüber Fremden, Raum für Hilfsbedürftige, Heimat für Heimatlose. Solcher Erfolg erscheint in keiner Buchhaltung, sondern in der Tat, dass hier etwas Heilsames getan wird in einer Gesellschaft, in der viele vereinsamen. Von solchen Erfolgen habe ich erfahren.
Welches ist dein innerer Weg bis hin zu «Service inbegriffe»?
Ich bin Emigrantensohn. Mein Vater musste 1938 als Jude fliehen. Er wollte in die Schweiz, wurde abgewiesen. Den Stempel mit dem «Abgewiesen» habe ich noch heute im Pass in meiner Schublade. Ende 1942, nach abenteuerlicher Flucht über Afrika und Frankreich, wurde er mit seiner Familie in die Schweiz gelassen, indem jemand dem Bundesrat nicht gehorchte. Beide Pole, «Abgewiesen» und «Aufgenommen», haben mein Leben und wohl auch meine Arbeiten geprägt. Filmend verarbeite ich meine Erfahrungen. Von meinem Vater habe ich Fremd-Sein in einem fremden Land und in einer fremden Sprache als Lebensgrund mitbekommen – und frage immer wieder: Wie gehen Menschen damit um?
Regie: Eric Bergkraut
Produktionsjahr: 2013
Filmlänge: 85 min
Verleih: First Hand Films