Small World

1997 hat Martin Suter seinen Roman «Small World» veröffentlicht. 2010 haben der französische Regisseur Bruno Chiche zusammen mit Gérard Depardieu und Alexandra Maria Lara in den Hauptrollen und weiteren Spitzendarstellerinnen und -darstellern daraus einen spannenden und gleichzeitig gewichtigen Film geschaffen. Ein spannender Gesellschafts-Thriller, eine tief schürfende Studie über die Alzheimerkrankheit ist «Small World».

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Manchmal, mit fortschreitendem Alter, rücken Erinnerungen aus der Kindheit stärker ins Bewusstsein als die Erlebnisse des gerade vergangenen Tages. So geht es dem alternden Freigeist Konrad Lang (Depardieu), der zusehends alltägliche Dinge vergisst, sich aber präzise an seine früheste Kindheit erinnert. Diese Anlage bildet den dramaturgischen Motor eines Plots, in welchem die Oberfläche der Gegenwart unscharf wird, während die Untergründe der Vergangenheit immer schärfere Konturen bekommen und schliesslich ein Geheimnis aufdecken.

Der Trailer

Der 60-jährige Konrad kümmert sich seit vielen Jahren um die Instandhaltung der Ferienvilla der reichen Industriellenfamilie Senn. Als ihm eines Tages unachtsam beim Anfeuern das ganze Haus in Flammen aufgeht, macht er sich auf den Weg zu seiner Zieh-Familie, die ihn jahrelang auf Abstand gehalten hatte. Dort auf dem herrschaftlichen Hauptwohnsitz feiert Philippe, der einzige Enkel des früh verstorbenen Patriarchen Arthur Senn, Hochzeit mit der hübschen Simone (Lara). Dieser ist der Stolz des alternden Familienoberhauptes Elvira, der zweiten Frau seines Grossvaters und Stiefmutter seines Vaters, der seine Tage mit Golfspielen verbringt. Extra für die Feierlichkeiten angereist ist auch Thomas Senns Ex-Frau Elisabeth, die sich inzwischen in Boston ein neues Leben fernab der Familie und der matriarchalischen Elvira aufgebaut hat.

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Das plötzliche Auftauchen des sichtlich verwirrten Konrad, der nicht ins Bild der eleganten Gesellschaft passt, stört die Festlichkeiten. Die entrüstete Elvira stellt ihn im Nebenzimmer zur Rede. Konrad beichtet den Hausbrand. Elvira wundert sich über dessen erstaunliches Erinnerungsvermögen, bis ihr Hausarzt ihr die beeindruckenden Leistungen des Langzeitgedächtnisses bei Demenzkranken darlegt. Simone hat sein unerwartetes und unerwünschtes Erscheinen neugierig gemacht. Bald erfährt sie, dass es sich bei Konrad um Thomas’ früheren Spielgefährten handelt, den Sohn einer Angestellten von Arthur Senn.

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Anna, die nach Arthurs Tod in die USA ging, liess ihren Sohn bei den wohlhabenden Senns zurück. So kam es, dass die beiden Jungen wie Brüder miteinander aufwuchsen. Elisabeth geht die Begegnung mit Konrad am Hochzeitsabend nicht aus dem Sinn, verband sie doch mit ihm eine innige Jugendliebe, bevor sie sich für den selbstbewussten Thomas entschied. In Konrads Stammlokal erinnern sich die beiden an glücklichere Zeiten und merken, dass sie immer noch Gefühle füreinander hegen. Simone, der die Vertrautheit von Konrad und Elisabeth nicht entgangen ist, interessiert sich mehr und mehr für die Geschichte des ausrangierten Jugendfreundes ihres Schwiegervaters, und beginnt, sich um Konrad zu kümmern. Bald berichtet dieser seiner neuen Vertrauten von Erlebnissen aus frühester Kindheit, die ihn mit Thomas, seinem «Tomi», verbinden, und an die sich dieser so gar nicht zu erinnern vermag. Als Simone beim Familienfrühstück von Konrads Erinnerungen an eine Venedig-Reise mit Thomas, Elvira und Anna berichtet, an die sich Thomas abermals nicht entsinnen kann, verlässt Elvira sichtlich aufgebracht über deren Erforschungen den Raum und zieht sich mit alten Fotoalben ins Arbeitszimmer zurück.

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Simone ist es auch, der als Erste auffällt, dass Konrad zwar immer eindringlich von Kindheitserinnerungen erzählt, zugleich aber sein Bezug zur Gegenwart mehr und mehr zu verschwimmen scheint. Als er sich eines Tages auf dem Weg vom Supermarkt in seine neue Wohnung verläuft, bringt Simone ihn nach Hause. Nach einer gemeinsamen Nacht mit ihr, läuft Konrad unbemerkt hinaus in die Kälte, um wie in Kindertagen, durch den Schnee zu laufen. Die erschrockene Simone findet ihn erst zufällig am nächsten Morgen halb erfroren im Park der Villa. Wie ein Kind möchte er am liebsten sofort mit ihr aus dem Krankenhaus zurück «nach Hause» in den Schoss der Familie.

Als Konrad sich in derselben Nacht vom Dach des Krankenhauses in die Tiefe stürzen will, in seinen Augen eine Art Spiel, eilt Elisabeth zu ihm, um ihn von seinem Vorhaben abzubringen. Doch er fällt, und nach seiner Rettung durch die Feuerwehr muss sie erkennen, dass die Situation sie überfordert. Niedergeschlagen kapituliert sie vor seiner fortschreitenden Demenz.

Elvira ist hin- und hergerissen zwischen ihrer Abneigung, Konrad um sich zu haben, und ihrem Mitleid um ihn. Gegen Thomas’ Willen bringt sie Konrad im Gästehaus der Senns unter, wo er von nun an von Simone und geschultem Pflegepersonal rund um die Uhr umsorgt wird. An Konrads Seite blüht die stille Simone sichtlich auf, denn im Gegensatz zu ihrem Mann Philippe, den sie auch noch in flagranti mit einer anderen Frau beobachtet, hat sie bei dem ebenso humorvollen wie kindlichen Konrad endlich das Gefühl, gebraucht zu werden. Aber als Konrad, auf der Flucht vor einer Nachtschwester eines Abends ein wichtiges Geschäftsessen der Familie stört, greift Elvira zu anderen Mitteln, um den Ruf ihrer Familie zu wahren: Sie befielt, die Heizung im Gästehaus abzustellen, und nur dank Simones Einsatz und dem Hausarzt überlebt Konrad eine schwere Lungenentzündung.

Die Situation spitzt sich zu, als Simone unerlaubt Kopien von Elviras alten Fotoalben anfertigt, die Kindheitsaufnahmen von Konrad und Thomas enthalten, von «Tomi» und «Koni», wie Konrad sagt, als sie ihm die Bilder zeigt. Langsam kommen irritierende Fragen auf. Ist es möglich, dass Elvira ein Geheimnis verbirgt? Auch Thomas macht das merkwürdige Verhalten seiner Stiefmutter stutzig, und als Elvira erkennt, dass sie ihre Version der Vergangenheit nicht länger aufrechterhalten kann, greift sie zum für sie letztmöglichen Ausweg…

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Die Schilderung dieses langsamen, doch stetigen Verschwindens der Gegenwart aus der Wahrnehmung und dem Bewusstsein bei Konrad schildern Drehbuch und Regie den Verlauf der Alzheimerkrankheit, die uns Depardieu mit seinem Spiel in einer beklemmenden und gleichzeitig zärtlichen Weise nahe bringt, dass wir glauben, mit dabei zu sein. In den Reaktionen der Menschen um Konrad verweist der Film zusätzlich auf erschütternde Weise die Auswirkungen der Demenz auf die Angehörigen und die Umwelt: Ein Problem, auf das die Gesellschaft noch keine Antworten kennt.

«Small World» von Martin Suter ist als Taschenbuch und (in autorisierter Kurzfassung) als Hörbuch bei Diogenes erschienen.