Son of Saul

Besuch in der Hölle: Der Ungar László Nemes beschreibt im Film «Son of Saul» das Unbeschreibliche des Holocaust, jenes absoluten Tiefpunkts der Weltgeschichte, und lässt uns als Schweigende und als Fragende zurück.
Son of Saul

Oktober 1944, Auschwitz-Birkenau. Saul gehört zu einem sogenannten Sonderkommando, einer Gruppe von jüdischen Häftlingen, die gezwungen werden, die Nazis bei der Ermordung der deportierten Juden zu unterstützen. Er arbeitet in einem der Krematorien. Eines Tages entdeckt er einen toten Jungen, in dem er seinen eigenen Sohn zu erkennen glaubt. Als die Mitglieder des Kommandos einen Aufstand planen, beschliesst er, das Unmögliche zu versuchen, den toten Jungen zu entführen und auf würdige Weise zu beerdigen.

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Der Regisseur, der fünf Jahre an diesem Film gearbeitet hat

László Nemes wurde 1977 in Ungarn geboren. Seine Mutter, eine Lehrerin, zog 1989 nach Paris, wohin ihr László folgte. Sowohl sie als auch sein Vater, der Regisseur András Jeles, waren Gegner des kommunistischen Regimes, weshalb sie emigrieren mussten. Der zwischen zwei Ländern und Kulturen aufgewachsene László studierte in Frankreich zunächst Politik-, dann Filmwissenschaften an der Universität Paris III, bevor er 2003 nach Budapest zurückkehrte, um den Beruf des Filmemachers zu erlernen.

Als Assistent von Béla Tarr arbeitete er bei drei Filmen mit. Danach realisierte er drei Kurzfilme. Von Tarr lernte er die Grundregeln der Regie: sich auf die Details konzentrieren, die Wichtigkeit jeder Szene erfassen, die ganze Arbeit als kohärenten Prozess verstehen. Scheinbar einfache Regeln, doch konsequent befolgt, waren sie wohl die Grundlage von Nemes' erfolgreichem Erstlings «Son of Saul», an dem er mit einer kleinen, verschworenen Equipe fünf Jahre lang, unterstützt von der Cinéfondation des Filmfestival Cannes, arbeitete.

Ein Teil seiner Familie wurde in Auschwitz ermordet, was zu Hause ein tägliches Gesprächsthema war und später wohl auch die Gestaltung seines ersten Langspielfilms beeinflusste. Zusammen mit dem Kameramann und dem Dekorateur stellte er für den Dreh folgende Regeln auf: Der Film darf nicht schön sein; er soll nicht verführen; es soll kein Horrorfilm werden; er muss stets bei Saul bleiben; die Kamera begleitet ihn bei seinem Gang durch die Hölle.

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Nachgedacht über den Holocaust im Ganzen ...

Bereits das alte, nahezu quadratische Bildformat des Films schränkt unser Blickfeld und unsere Aufmerksamkeit ein, komprimiert die Welt des Films und unsere Weltschau. Begegnet sind wir diesem Format in letzter Zeit im Film «Ida» von Pawel Pawlikowski. Unterstützt wird diese Enge durch die beschränkte Farbskala, vornehmlich in Grau, Braun und Schwarz. Saul Ausländer, so der Name des Hauptprotagonisten, füllt nicht nur visuell das Bild, sondern auch inhaltlich die Geschichte. Géza Röhrig, der ihn verkörpert, bietet unbestritten eine Meisterleistung, zumal er gar kein Schauspieler ist, sondern ein Lyriker, der hier zum ersten Mal vor der Kamera gestanden ist.

Die Juden, die hier nackt , nach Geschlecht und Alter getrennt, heulend, betend und schliesslich an die Wände hämmernd in den Tod getrieben werden, gelten bei den Nazis nicht als Menschen, sondern als Stücke einer unmenschlichen Buchhaltung, die ein tödliches Vernichtungs-Plansoll zu erfüllen haben. Und dieser, sich beständig wiederholende Prozess geschieht in einem Höllentempo und bei einem Höllenlärm, dass man sich die Augen und Ohren verschliessen möchte.

Die Kommunikation der Nazi-Schergen reduziert sich auf Lügen. Ihr Tun, das sie als Arbeit deklarieren, ist nichts anderes als ein nicht enden wollendes Töten. Deren Vorbereitung und die Nachbereitung leisten die Juden der Sonderkommandos, den Höhepunkt, die Exekution in den Gaskammern, zelebrieren die Offiziere der SS selbst.

«Son of Saul» stellt im Ganzen eine eindrückliche, erschütternde, auf umfangreichen Recherchen fussende, ehrliche und objektive Inszenierung des Holocaust dar, wie er sich zugetragen haben dürfte. Ein Ereignis, das, wie ich meine, alle Nachgeborenen kennen sollten.

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... und die Geschichten im Einzelnen

Die Literatur über die Sonderkommandos kenne ich nur oberflächlich, weshalb ich mir einige Fragen erlaube: Haben Juden, die gezwungen wurden, an der Vernichtung eigener Leute mitzuwirken, diese Aufgabe im Glauben übernommen, einige retten zu können? Oder haben sie diese Aufgabe unwissend und ahnungslos übernommen? Oder haben sie das Amt angenommen, um selber dem Tod zu entkommen? Der Film gibt darauf keine eindeutig Antwort, obwohl dies für die Deutung wichtig wäre. Dramaturgisch zeigt die Sonderkommando-Perspektive im Film höchst präzise die Funktion der Tötungsfabrik, ihre Organisation und Produktivität.

Fragen stellt mir auch die fixe religiöse Idee, dass der tote Sohn unbedingt mit dem von einem Rabbi gesprochenen Kaddisch beerdigt werden muss, obwohl gleichzeitig und vor Ort Tausenden verscharrt werden. Dafür unternimmt Saul unmenschliche Anstrengungen, zweimal hebt er vergeblich ein Grab aus, überquert in Todesgefahr mit der Leiche einen Fluss und verunmöglicht dadurch einen Aufstand im Lager. Dies alles wegen eines religiösen Rituals! Das kann ich nicht verstehen, auch wenn eine deutsche Kritikerin dabei von einer «Moral des Glaubens» spricht.

Der Filmschluss, auf den keine Kritik, die ich gelesen habe, hinweist, bleibt mir ebenfalls unklar. Der Junge, der getötet wurde und um dessen Beerdigung sich der ganze Film dreht, taucht am Schluss des Filmes bei den Fliehenden wieder auf. Ist es der gleiche Junge? Ist es eine Fata Morgana? Soll es die Rettung der aus dem KZ Geflohenen symbolisieren? Ich weiss es nicht. Und doch hängt auch von dieser Antwort eine Deutung der Geschichte ab.

Nach solchen Fragen – in meinen Augen Ungereimtheiten – gebe ich dem Film «Son of Saul» zwei, sich widersprechende Wertungen: Der Film über den Holocaust im Ganzes stellt ein grossartiges, absolut ernst zu nehmendes Gemälde des epochalen Ereignisses dar; die Geschichten im Einzelnen verfangen sich in religiösen Problematiken, die Aussenstehende kaum nachvollziehen können.

Auf die heutige Situation der Juden in Israel zu kommen, bietet sich an: Das gleiche Volk, das im Holocaust ein solch abgrundtiefes Leiden erfahren hat, besetzt seit 1948 Palästina, versucht erklärterweise die Palästinenser, die nichts mit den Nazis zu tun haben, auszurotten und deklariert dies der Welt als Wille Gottes. – Vielleicht irre ich mich in der einen oder andern Anmerkung zum preisgekrönten Films «Son of Saul». Solches ist beim Weiterdenken eben möglich.


Regie: László Nemes, Produktion: 2015, Länge: 107 min, Verleih: Filmcoopi