Spuren des Erlebens
Arno Stern inmitten malender Kinder
Viele kennen die Malateliers, die auf Arno Sterns Konzept basieren: Ein Raum ohne Fenster, vier farbige Wände, an denen auf grossen Blättern gemalt wird. In der Mitte 18 Farben auf einem langen Palettentisch angeordnet. Zu jeder Farbe gehören drei Pinsel verschiedener Grösse, die unter den Malenden geteilt werden. Die Bilder an den Wänden dürfen gross werden, auch über mehrere Blätter und längere Zeit sich erstrecken. Frei, ohne Anweisung und ohne Bewertung, lediglich den Regeln des «Malspiels» folgend! Stern nennt seine Tätigkeit «Malspiel-Dienender». Er betont, dass er die Kinder malen lässt, ihnen in ihrem Tun lediglich assistiert, wenn nötig anfänglich etwas ermuntert. Denn vielen Kindern fehlt heute das natürliche Vertrauen, einfach spielerisch zu malen. Spontanität lässt sich in der «Formulation», vergleichbar dem Aufbau eines Alphabets der Bildsprache, auf natürliche Weise entwickeln.
Dies in Kürze und lückenhaft die Struktur und das Konzept des «Malortes», aus dem Französischen als «Closlieu» bekannt. Am Anfang hiess es dort «Donnerstagatelier», weil die Kinder dann frei hatten. Heute wird damit in einigen pädagogischen und therapeutischen Bereichen gemalt, mehr oder weniger strikt nach Arno Stern. Nebst vielen privaten Malateliers, die weltweit entstanden sind, gibt es sie meist in Kindergärten, Schulen und Spitälern sowie als festen Bestandteil neuer Bauten eingeplant. Die noch junge Maltherapie wurde von Sterns Theorie und Praxis wesentlich beeinflusst. Verschiedenste Bereiche und Menschen unterschiedlichster Sparten wurden durch seine Arbeit inspiriert. Vor gut 70 Jahren fing er an, mit Kriegswaisen in der Nähe von Paris zu malen. Zu diesem wohl bekanntesten Teil seines Werkes, den Malateliers, und ebenso wichtig, gehören seine Jahrzehnte langen Forschungen mit Kindern in aller Welt beim Malen, ein Archiv mit rund 500'000 Zeichnungen von Kindern und Erwachsenen sowie mehrere Dutzend Bücher, in viele Sprachen übersetzt, aus seiner Feder.
Ein Mädchen den Spuren seines Erlebens folgend
Vom Malatelier zum Film
«Spuren des Erlebens – Arno Stern, ein Leben im Einsatz für die Welt der malenden Kinder» der Tessiner Autorin und Regisseurin ist der Dokumentarfilm, der in einem ersten Teil vor allem Sterns Leben als jüdischer Flüchtling und in einem zweiten Teil schwerpunktmässig die Arbeit mit den malenden Kindern schildert. Er umfasst zwei Geschichten, die ineinandergreifen und sich gegenseitig beeinflussen. Mir scheint, Andrea A. Rodoni trifft den Kern des grossartigen Werkes von Arno Stern mit dem Haupttitel «Spuren des Erlebens» genau. Die Erweiterung, «Arno Stern, ein Leben im Einsatz für die Welt der malenden Kinder», umschreibt vor allem das Ergebnis seines langen Lebens als Pädagoge und Forscher. Leben und Arbeit sind bei ihm nie getrennt. Durch seine Erzählungen und Reisen werden biografische und pädagogisch Zusammenhänge erklärt und vertieft. Nebst dem originalen Malort in Paris werden kurze Zeitfenster geöffnet in Malorten von Kindergärten und Schulen in der Schweiz und in Italien.
Die etwa 500 000 Zeichnungen von Kindern aus den Malateliers
Hineingehört und hineingeschaut
Der Film pendelt zwischen Sterns Biografie, Besuchen in Malateliers, wissenschaftlichen Exkursen und verbindet sie miteinander, was zur Hommage an einen grossen Menschen, Pädagogen und Wissenschaftler wird, und uns gleichzeitig motiviert, mehr über diese Welt zu erfahren. Nachfolgend einige zufällige Zitate aus dem Film:
Über seine eigene Vergangenheit: «Es kommt zuweilen vor, dass mich das Kind besucht, das ich einst gewesen bin, der zeitlichen Entfernung trotzend. Und es bringt auch die damaligen Orte mit, in denen das Erlebte geschah, die ehemaligen Häuser, in veränderten Strassen.»
Über die Erwachsenen: «Im Allgemeinen geht man davon aus, Kinder würden versuchen, etwas darzustellen und uns etwas als Mitteilung zu zeigen. Der Erwachsene ist dann Empfänger und Beurteiler der Äusserung des Kindes. Er glaubt, das Kind sei so ungeschickt und könne es nicht besser, man müsse ihm helfen, es besser zu machen. Das ist eine verbreitete Einstellung und geht auf Kosten der spontanen Äusserung, die in der Formulation geschieht.»
Bei einem Vortrag in Solothurn im Jahr 2015: «Die Formulation ist die einzige Äusserungsmöglichkeit der Speicherung in der organischen Erinnerung. Es gibt dafür keine Ergänzung, bedarf auch keiner. Wichtig ist, dass es eine Äusserung gibt für diese Speicherung, das ist das Dringende.»
Hauptsache und Nebensache: «Ich finde, Musizieren und Musik erleben sollte etwas Wesentliches im Leben jedes Kindes sein, genau wie die Bewegung, was man freies Tanzen nennt, sollte im Leben eines Kindes eine Hauptrolle spielen. Um es ganz genau zu sagen: Alle Kinder sollten tanzen, musizieren und das Malspiel erleben. Alles andere ist Nebensache.» Tosender Applaus und Standing Ovation des Publikums, dem ich mich anschliessen möchte – im radikalen Bewusstsein, dass mit Arno Stern, flankiert von Neurowissenschaftlern und andern Pädagogen, ein Paradigmenwechsel im Denken über das Kind stattgefunden hat.
Ein Junge beim Malen seiner Erfahrungen
Anmerkungen der Autorin und Regisseurin
«Spuren des Erlebens» ist ein Thema, dem ich auf dem langen Weg mit Arno Stern für die Arbeit an diesem Film immer wieder begegnet bin und deshalb zunehmend ins Zentrum dieser Filmgeschichte gerückt ist. Das Erleben, das uns Menschen, speziell auch Kinder prägt, die «Inneren Erlebnisse», die auch im Gegensatz zu «Äusseren Geschehnissen» stehen können, wie Arno Sterns Erzählungen im Film zeigen. Der Film vertieft Arno Sterns Lebensgeschichte, so wie er sie mir über die Jahre, zehn Jahre sind es nun genau, in vielen persönlichen Begegnungen erzählt hat. Das Lebenswerk ist ein untrennbarer Teil davon.
Auf dem Weg der Recherchen besuchte ich nebst dem «Original» in Paris einige Malorte in unterschiedlichsten Situationen. Dabei wurde mir zunehmend bewusst, was Arno Stern mit der Struktur des «Closlieu» Wertvolles geschaffen hat. Ich beobachtete, wie die Kinder in den Schulen, Spitäler und privaten Malateliers in diesem Raum aufatmen, regenerieren und ihre spielerische kreative Energie entwickeln können: einfach einmalig! Ein Raum des Schutzes, bewertungsfrei und ebenfalls des Erlebens. Ich beobachtete, je mehr Arno Sterns Konzept dabei wirklich verstanden und somit umgesetzt wird, um so stärker. Doch in diesem Sinn empfand ich jedes dieser Malateliers als sehr wertvoll, und sie sind aus sehr unterschiedlichen, ebenfalls spannenden Geschichten entstanden. Arno Stern selber mit den Kindern in seinem «Closlieu» in Paris zu erleben, von ihm erzählen zu lassen, aus der Hintergrundgeschichte seines so seines Konzeptes des «Closlieu», sowie aus seiner jahrzehntelangen Erfahrung und Forschung, mit seinen Gedanken dazu, schien mir umso mehr eine einmalige Gelegenheit. Deshalb war es mir sehr wichtig, diesen Film zu realisieren.
Natürlich ist der Malort ebenfalls für Erwachsene wertvoll und es wird idealerweise ohne Altersgruppierung zusammen gemalt. Doch im Film wird speziell auf die Kinder eingegangen, ihren Ausdruck über das Malen und Spielen, so wie es in uns allen einmal angefangen hat, universell und zeitlos ist. Ich denke, dies war auch die gemeinsame Motivation von Arno Stern und mir, von diesen Entwicklungen und Zusammenhängen der Kinder zu erzählen. 2011 traf ich Arno Stern das erste Mal, eher durch Zufall, und auch noch nicht in Paris, sondern in der Nähe meines Wohnortes, in der italienischen Schweiz. Ihn zu beobachten, wie er Kinder «malen lässt», wie er betonen würde, war für mich beeindruckend. Seither folgten sehr viele weitere Begegnungen und Gespräche für dieses Filmprojekt.
Mit dem Film «Spuren des Erlebens – Arno Stern, ein Leben im Einsatz für die Welt der malenden Kinder» war mir wichtig, diese herzliche Nähe, die sich entwickeln konnte, so wie ich Arno Stern über die vielen Jahre erleben und beobachten durfte, in den Film mit einzubringen. Und mit dem Publikum, durch die Möglichkeit eines Films, diese inspirierenden Momente mit Arno Stern und seinem Werk zu teilen. Von Anfang an war mir dabei wichtig, einen nahen, in diesem Sinne persönlichen Film zu schaffen. Einen Kinofilm, der die Zuschauenden während fast zwei Stunden von Arno Stern auf eine gemeinsame filmische Reise mitnimmt.
Regie: Andrea A. Rodoni, Produktion: 2021, Länge: 114 min, Verleih: DocMovefilm