Star
Die junge Russin Mascha ist bereit, alles zu opfern, um gängigen Schönheitsidealen zu entsprechen und ein Star zu werden. Sie ist nicht besonders begabt, dafür umso optimistischer. In einem Nachtclub, wo sie als Meerjungfrau arbeitet, trifft sie Kostia, den Sohn des Moskauer Oligarchen Sergei. Der Junge ist aus dem goldenen Käfig des Elternhauses geflohen, um das wahre Leben zu spüren. Bald landet dort auch Rita, seine kühl berechnende Stiefmutter.
Mascha und Rita «machen Kunst»
«Star» ist ein weiteres faszinierendes Märchen für Erwachsene von Anna Melikian, die uns schon 2008 mit «Rusalka» verzaubert hat. «Rusalka» erzählt mit einer Überfülle von märchenhaften Erzähl- und Bildeinfällen, in welche immer die russische Realität einbricht. «Star» ist verankert im Realistisch-Alltäglichen des heutigen kapitalistischen Russland, wird jedoch immer wieder mit subversivem Aberwitz zur märchenhaften Parabel ausgeweitet.
Hinter den Frauen zwei Männer, die auf- und aussteigen
Zwei Seiten derselben Medaille
Die beiden Frauen stehen anfänglich an den entgegengesetzten Enden der materialistischen Karriereleiter: Rita ist, eiskalt kalkulierend, bereits im Zentrum des Reichtums und der Macht angekommen und braucht nur noch eine Schwangerschaft, um das mühsam Erarbeitete als Frau Minister abzusichern. Von ihrem zutiefst verhassten Mann wünscht sie sich die Gründung einer Wohltätigkeitsstiftung, was dieser mit «reich sein reicht wohl nicht mehr» quittiert. Am andern Ende der Leiter steht die mausarme, jedoch aufgestellte Mascha, die vielleicht Schauspielerin oder Sängerin, ganz gewiss aber ein Star werden will und deshalb von einem Casting zum anderen durch das winterliche Moskau hetzt. Weil es mit den künstlerischen Talenten hapert, konzentriert sich das spindeldürre Mädchen auf eine physische Aufrüstung, wofür sie eine Checkliste aufgestellt hat: 1. Haare, 2. Tattoo, 3. Zähne, 4. Ohren, 5. Brüste, 6. Lippen, 7. Beine.
Der Film «Star» ist, obwohl er spontan daherkommt, streng symmetrisch gebaut: Hier wie dort eine junge Frau mit hohen Ambitionen und seltsamen Verhaltensweisen. Hier der menschliche Kühlschrank Rita, verwöhnt, überheblich, voller Verachtung für ihren Gönner-Ehemann und ihrerseits zutiefst verachtet von dessen verstocktem Sohn Kostia, der ihr Kalkül durchschaut. Dort die wild entschlossene, doch grenzenlos naive Mascha, die bereit ist, für ihren Aufstieg schrittweise ihren Körper durch dilettantische Schönheitsoperationen entstellen zu lassen.
Mascha und die Reglementierung der Schönheit
Die oberen Zehntausend und das Fussvolk
Die Wege der beiden Frauen kreuzen sich im Nachtclub, in dem der Aufstieg der einen und der Abstieg der anderen einsetzt. Rita lässt sich hier volllaufen, nachdem sie völlig überrascht von einer als tödlich diagnostizierten Krankheit erfahren und dann ihrem Enkel geholfen hat, den Safe ihres Mannes zu knacken. Danach ist sie ihren Sportwagen, ihren Zugang zur Villa und die letzte Kreditkarte los. Mascha hat dort den Job als Wassernixe bekommen und Kostia immer wieder trifft, der sich über seine Herkunft schämt und eine Aushilfe im Club der Privatschule vorzieht. Der Möchtegernaussteiger und die Möchtegernaufsteigerin, der gefallene Engel und der Oligarch formieren sich in wechselhaften Allianzen, deren Wege durch ein Moskau voller Baustellen und durch Scharen von Arbeitenden führt. Kein Stein, so bietet die Regisseurin eine Deutung an, bleibt in dieser Stadt auf dem anderen, alles in dieser Gesellschaft ist in rasendem Um- und Neubau begriffen.
Nur in Moskau und in der russischen Gesellschaft? Nein. Überall, wo der Kapitalismus herrscht. Die Handlungen der vier Protagonisten auf der Vorderbühne werden ergänzt durch die Handlungen auf der Hinterbühne: Kolonnen von Bauarbeitern und Dienstboten, namenlosen Zubringern und Hilfsarbeitern, also Sklaven, ohne die die oberen Zehntausend nicht existieren könnten. Sie erinnern in ihrer Choreographie an den Chor des griechischen Theaters, bleiben jedoch stumm und sprachlos.
Rita, am Schluss im selben Pool wie Mascha
Von den Prototypen zu den Figuren und zur Botschaft
Anna Melikian zum Film: «Wenn ich schreibe, erfinde ich nichts - alles setzt sich aus Beobachtungen zusammen, aus Dingen, die ich irgendwo gesehen oder gehört habe, denn alle Figuren des Films haben ihre Prototypen. Manche glauben sogar, in einzelnen Figuren eine bestimmte Person wiederzuerkennen. Man kann aber nicht sagen, dass eine der Figuren voll und ganz einem konkreten Menschen entspricht. Im Film setzen sich Situationen wie Menschen aus Tausenden von Details und Charakteren zusammen. In „Star" ist viel Persönliches drin, aber nicht unbedingt dort, wo es die meisten vermuten.»
Nach diesen Anmerkungen dürfte auch der Vergleich mit «Love Island» interessant sein, in welchem es der kroatischen Regisseurin Jasmila Žbanic, wie hier der Russin Anna Melikian, gelingt, in einer unterhaltsamen, dramatischen, scheinbar oberflächlichen Story einen grundsätzlichen, ernst zu nehmenden Diskurs zu formulieren: dort über die Liebe, hier über den Kapitalismus.
Aussenansichten werden zu Innenschauen
Der Film einer Russin über Russland macht bewusst, wie Kapitalismus in Russland heute aussieht und funktioniert. Solche und ähnlich Aussenansichten bieten Filme von trigon-film immer wieder. Der Titel ihres Jubiläumsbuches «Welt in Sicht» passt hierher, verleiht auch diesem Film eine überregionale Bedeutung.
Anna Melikian erzählt mit leisem Schalk und kluger Analyse vom Schönheitswahn, von der Macht der Mode, den Medienmanipulationen, dem Missbrauch der Kunst durch den Kommerz, der Qualifizierung des Menschen entsprechend seiner Finanzen, dem Missbrauch der Ehe für die Karriere, der Zerrissenheit unserer Gesellschaft. Ein Link von Russland zu uns liegt auf der Hand.
Nur wenige Filmschaffende sind mir bekannt, die zusätzlich zur spannenden Unterhaltung die Umgebung und die Räume sowie die Nebenrollen so direkt einbeziehen und mit Bedeutung laden wie diese Russin. Sie liefert uns Tatsachen aus dem Alltag, Andeutungen zum Weiterdenken und eine Einladung in die Welt der Märchen. «Star» zeigt, so vielleicht seine Botschaft, wo die Baustellen einer künftigen post-kapitalistischen Gesellschaft sein könnten.
Regie: Anna Melikian, Produktion: 2014, Länge: 128 min, Verleih: trigon-film