Still Life

Den Toten ihre Würde geben: Mit Eddie Marsan durchleben wir im Film «Still Life» von Uberto Pasolini eine feinfühlige, sinnige Parabel über die Einsamkeit und die Liebe über den Tod hinaus.

 

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Als Einstiegsbild des Films «Still Life» steht lange ein Friedhof auf der Leinwand, und anschliessend folgen drei Szenen von Abdankungen mit je einem Geistlichen und John May, der beruflich dafür zu sorgen hat, dass Beerdigungen in angemessener Form durchgeführt werden. Ab hier begleiten wir den pflichtbewussten und überkorrekten Beamten bei seiner hingebungsvollen Arbeit, an die Angehörigen, Freunde und Bekannten der ihm gemeldeten Verstorbenen heranzukommen. John selbst ist einsam und verspeist jeden Abend, allein in seiner mehr als einfachen Wohnung, eine Dose Thunfisch mit Toast. Für seinen Dienst an den Einsamen dieser Welt braucht er detektivische Fähigkeiten: Ist nämlich jemand gestorben, muss er die Hinterbliebenen ausfindig machen. Da diese aber, wenn sie überhaupt existieren, oft keinen Finger rühren wollen, kümmert er sich selbst um alles: Er organisiert den Geistlichen, schreibt die Abdankungsrede und besorgt die passende Musik, um «seinen» Verstorbenen die gebührende Würde zu erweisen.

Die letzte Ehre erweisen

Die Fotos der Toten nimmt er aus den Dossiers und klebt sie sorgfältig in sein eigenes Album. Für ihn sind es keine Fälle, sondern Menschen, denen er die letzte Ehre erweisen will. Vielleicht will er den andern gut sein, gerade weil er solches selbst nicht erfährt. Als er seine Stelle aus Spargründen verliert, ergreift er die letzte Gelegenheit, sein Können unter Beweis zu stellen. Auf den Spuren eines verstorbenen Nachbarn macht er sich auf die Reise, die ihn von London quer durch England – und schliesslich, brutal und wunderbar zugleich, zu sich selbst führt.

Herausgefordert durch eine Zeitungsnotiz über eine Frau, die gestorben ist, ohne dass es jemand bemerkt hat, beginnt Uberto Pasolini, der englische Regisseur mit italienischen Wurzeln über die Arbeit der zuständigen Beamten zu recherchieren. Er spricht mit jenen, welche die Angehörigen suchen müssen und dann, wenn niemand sich finden lässt, die Wohnung der verstorbenen Personen räumen, an den Leichen die notwendigen Handlungen durchführen und die Gottesdienste gestalten muss. Der Regisseur selbst kenne als Geschiedener mit zwei Kindern, so erzählt er bei der Premiere, diese Einsamkeit, die der Film in der fundamentalen gesellschaftlichen Pathologie zur Darstellung bringt.

Der letzte Fall, den May, bereits entlassen, also in der Freizeit, lösen will, heisst William Stoke, einst wohnhaft in seiner Nachbarschaft. Er hat in seinem Leben manch krumme Tour gedreht und so kennen ihn mehr Feinde als Freunde. Doch John May findet mit dem Aufgebot all seines beruflichen Know-hows und seiner menschlichen Empathie Stokes Frau Mary, seine Kumpel aus dem Falkland-Krieg, Mitgefangene und Penner der letzten Jahre und schliesslich seine Tochter Kelly.

 

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Die Schilderung dessen, was in den Menschen, die William je begegnet sind, nach der Meldung seines Todes abläuft, ist bestes englisches Sozialdrama, ist ein psychologisches Kammerspiel. In Szene gesetzt vom Regisseur und den Protagonisten, vorab von Eddie Marsan als John May, unbestritten einem der besten britischen Schauspielern. Sein Talent wurde bereits von renommierten Regisseuren wie Martin Scorsese, Steven Spielberg, Mike Leigh und J. J. Abrams erfolgreich genützt. Emotional erlebbar gemacht wird die Geschichte auch durch den klugen Einsatz der Farbe, beginnend mit kaltem Blau und allmählich sich zu Hellgrün, Orange und Rot aufhellend. Vertieft durch die Musik, die im Lauf der Handlung immer lebendiger wird, und die Montage, die mit langen statischen Bildern einsetzt und in kurzen, bewegten Schnittfolgen endet.

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Ein Hymnus auf das Leben und die Liebe

Ohne Polemik, sondern mit Anteilnahme und Liebe gehen John May und Uberto Pasolini vor, obwohl sie den Kern einer gesamtgesellschaftlichen Misere aufdecken. Sie lassen erahnen, wie aus der Einsamkeit Zweisamkeit, aus «solitaire» «solidaire» werden kann. Nur wenige Filme gibt es, die ähnlich wie «Still life» äusserlich zwar um den Tod kreisen, im Tiefsten jedoch für das Leben und die Liebe werben. Bekannt ist, dass der Wert einer Gesellschaft daran zu messen ist, wie sie mit ihren schwächsten Gliedern umgeht, und das sind wohl die Toten, die sich nicht mehr wehren können. Dass dieses Manko der westlichen Gesellschaft erstmals von einem japanischen Film, nämlich «Departures», thematisiert wurde, gibt zu denken.

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Seine visuelle Referenz findet «Still Life» bei den späten Filmen des Japaners Yasujiro Ozu mit ihren ruhigen, doch kraftvollen Bildern des Alltags, und damit wohl auch beim neuen Film seines Schülers Yoji Yamada «Tokyo Family». Alle drei Filme übersteigen das Psychodrama und die Gesellschaftskritik, werden zu einem Hymnus auf das Leben und die Liebe. Dies illustriert auch das unerwartete und wunderbare Schlussbild, das ich hier nicht verrate, das Pasolini aber schon am Anfang seiner Drehbucharbeit festgeschrieben hatte.

Regie: Uberto Pasolini
Produktion: 2013
Länge: 92 min
Verleih: Filmcoopi