Still walking

Eine Familie für alle Familien

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«Die seelische Grundlage einer neuen Gesellschaft» untertitelte Erich Fromm seinen Klassiker «Haben oder Sein». Und spätestens seit Banker mit ihren Un-Werten die Welt in eine Krise gestürzt haben, sehnen sich viele Menschen wieder nach andern seelischen Grundlagen, nach neuen alten Werten, die sich in Religion, Philosophie und Kunst aufscheinen. So im neuen Spielfilm des 47-jährigen japanischen Meisters Hirokazu Kore-eda «Still walking».

Der mehrfach preisgekrönte Film erzählt eine Familiengeschichte mit erwachsenen Kindern, die sich an einem einzigen Sommertag abspielt. Die alternden Eltern haben Jahrzehnte lang in ihrem Zuhause gelebt, wohin Sohn und Tochter mit ihren eigenen Familien zu einem speziellen Familientreffen kommen. Sie versammeln sich, um dem verstorbenen Sohn und Bruder zu gedenken, der bei einem Unfall, als er ein Kind aus den Fluten retten wollte, selbst ums Lebe gekommen ist. Obwohl alles noch wie früher ist, das gemütliche Haus und das Festmahl, haben sich alle im Laufe der Zeit leise und subtil verändert.

Eine Familie für alle Familien

Die neun Personen sind durch Liebe verbunden und durch Ressentiments getrennt. Geschickt zwischen leisem Humor und wehmütigem Kummer balancierend, porträtiert der Regisseur, wie bemühend und wertvoll zugleich das Familienleben sein kann. Es werden in diesem Film keine Themen abgehandelt, keine Thesen diskutiert. Wir wohnen einem alltäglichen, unvollkommenen Alltag bei. Im Mittelpunkt der alte Vater, der seine Arztpraxis aufgeben musste, weil seine Augen es nicht mehr machen, und die alte Mutter, die mit ihrem köstlichen Mais-Tempura die Familie begeistert. Nebensächliches, das zur Hauptsache wird. Dabei haben, neben den Kindern, auch die Enkelkinder ihren wichtigen Part, als jene, die nach vorne blicken, die Zukunft bauen, Symbol für das Leben nach dem Tod, während die Alten zurückschauen und ihre Vergangenheit beschwören.

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Alle Figuren zusammen erst bilden das wunderbare Mosaik einer japanischen Familie: jeder Familie, der menschlichen Gemeinschaft. Zu erleben gibt es alles, was in jeder Familie vorkommt, Ausgesprochenes und Verschwiegenes. Man beneidet, beargwöhnt, rivalisiert, man versöhnt, verbindet und vereinigt sich. Und aus den Pausen der Gespräche, den Bildern von Nebenan kriecht die Vergangenheit, das Schweigen, aber auch die Ehrfurcht.

Den Menschen in «Still Water» begegnen wir wie zufällig. Kore-eda hat zuvor den Tod seiner Eltern und, indem er auch andere beobachtet hat, den Tod aller Eltern, das Sterben aller Menschen nicht thematisiert, sondern einfach abgebildet, dass die Zuschauenden sich ihre eigenen Schlüsse für ihr Leben ziehen können. Seismografisch genau schildert er das Leben, das dahinströmt.

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«Carpe diem!»

Mit hohem formalen Können (Kamera, Musik, Schnitt, Schauspiel) schildert «Still walking» das Leben sensibel und differenziert, so wie es ist, dass dem Publikum nur das Staunen bleibt – über das Leben! Der Film erzählt eigentlich keine Geschichte, welche eine Botschaft transportiert; er selbst ist die Botschaft. Ohne Schuldzuweisung und Wertung, einfach das Hell und Dunkel des menschlichen Lebens. Wir erleben, was geschieht, wenn im Leben (äusserlich) nichts geschieht. Wir leben während knapp zwei Stunden das Leben von neun Personen während vierundzwanzig Stunden. Das bewegt, berührt. Ähnlich wie schon in seinem Film «Nobody Knows» (2004), dessen Story vom Überleben einer Kinderschar ohne Mutter handelte, in der Form verwandt mit dem grossen japanischen Kinomagier Yasujiro Ozu.

Dieses Mit-Sein im Film wird für uns zum Sein. Wir leben dieses Leben mit, wie Thomas von Aquin schrieb, dass es Sein erst gibt im Mit-Sein. So sind wir, wenn wir nach dem Film aus dem Kino auf die Strasse hinaustreten, sensibler und wacher für das Leben. Und wir werden von einem geheimnisvollen Glücksgefühl erfüllt: Carpe diem! Pflücke den Tag! Lebe das Leben! Kino zum Staunen und Schweigen, zum Niederknien hiess es gar in einer Kritik. – Wahrlich neue alte Werte, die wir, wie Erich Fromm postuliert, brauchen, die heute mehr denn je not-wendig sind.

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PS

Eine frappierende Verwandtschaft ist über die Kunstgattungen hinaus auszumachen zwischen dem japanischen Film und dem vor Kurzem erschienenen Roman «Sieben Jahre» des Schweizers Peter Stamm. Über ihn schrieb Anuschka Roshani, was exakt auch auf Kore-eda zutrifft: Er hat sich «zu einem Spezialisten fürs Allgemeine entwickelt. Für das, was zwischen Menschen geschieht, weil es das ist, was sie verbindet». Er berichtet «vom Normalen, das aus dem Tritt gerät.» Für ihn trifft zu, dass «sich Wahrnehmung und die Formulierung, die man für das Wahrgenommene findet, decken.»