Sturm

Ein spannender und bewegende Polit-Thriller von Hans-Christian Schmid über den Balkankrieg, der im Untergrund noch weiter geht, weil Nationalismus und politisches Kalkül die Täter schützen.

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Der Internationaler Strafgerichtshof für das ehemalige Jugoslawien verhandelt seit 1994 einen Teil der während der Kriege individuell als Einzelperson oder Teil einer Befehlskette begangenen Kriegsverbrechen. 13 Jahre nach Einreichung der Klage von Bosnien und Herzegowina gegen die damalige Bundesrepublik Jugoslawien wurde am 26. Februar 2007 vom Internationalen Gerichtshof in Den Haag das Verfahren gegen den Staat Serbien und Montenegro beendet. Das Gericht entschied dabei, dass es sich bei dem Massaker von Srebrenica um Völkermord handelte, für den die Führer der Republika Srpska verantwortlich waren. Ein direkter Schuldspruch wurde nicht gesprochen, allerdings wird Serbien vorgehalten, nicht alles Mögliche unternommen zu haben, den Völkermord zu verhindern. Die im Jahr 1999 eingereichte Klage Kroatiens gegen Serbien und Montenegro wird derzeit vom Gericht noch geprüft. – Soweit etwas Hintergrund zur Situierung des Films.

Ein Film zwischen politischem Kalkül und Zivilcourage

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Hannah, die Anklägerin im Kriegsverbrechertribunal: zermalmt zwischen Recht und Staatsraison, zwischen Profession und Herz.

Hannah gibt den Fall nicht auf. In der Hoffnung, neue Erkenntnisse zu gewinnen, reisst sie zur Beerdigung des Zeugen nach Sarajevo und trifft dort auf Alans Schwester Mira Arendt. Schon bald gewinnt sie den Eindruck, dass die junge Frau mehr über den Angeklagten zu sagen hat, als sie zunächst zugeben möchte und dass sie als Mitwisserin Gewissensbissen plagen. Obwohl Mira Angst hat, sich der Vergangenheit zu stellen und damit ihre ahnungslose Familie zu gefährden, mit der sie sich in Deutschland mühsam ein neues Leben aufgebaut hat, liefert sie schliesslich den entscheidenden Hinweis für Durics Verbrechen. Sie erklärt sich auch bereit, ihre Aussage vor dem Tribunal in Den Haag zu wiederholen. Unmittelbar vor der entscheiden Verhandlung versucht die Verteidigung, Miras Zulassung als Zeugin zu verhindert und finden mit ihren Anliegen unerwartet auch die Unterstützung der Richter. Hannah begreift, dass ihre Gegner nicht nur auf der Anklagebank, sondern auch in den eigenen Reihen zu finden sind.

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Mira, gespielt von der Rumänin Anamaria Marinca: traumatisiert und im Zwiespalt, ihr Wissen einzubringen, um sich zu entlasten, dafür aber das Leben ihrer Familie gefährdet.

Noch mehr Hintergrund: damals…

In der Gegend von Srebrenica wurden im Juli 1995 8’000 Bosniaken, vor allem Männer und Jungen zwischen 12 und 77 Jahren, getötet. Über mehrere Tage zog sich, im Angesicht der ganzen Weltöffentlichkeit, das Massaker hin. Tausende von Leichen begrub man in Massengräbern. Von den Verantwortlichen, dem Serbenführer Radovan Karadžić und dem General Ratko Mladić, ist bis heute keiner verurteilt: Der eine boykottiert in Den Haag den Prozess, der andere lebt unbehelligt in Serbien. Die Ereignisse von Srebrenica gelten als das schlimmste Massaker in Europa seit dem Zweiten Weltkrieg. Das UN-Gericht klassifizierte es als Völkermord, denn die Verbrechen erfolgten nicht spontan, sondern wurden systematisch geplant und durchgeführt.

… und heute

Hans-Christian Schmid stellt seinem Film folgende Notiz voran: «Integrität auf der einen und die Biegsamkeit der Wahrheit auf der anderen Seite – das ist das Spannungsfeld des Konfliktes, in dem sich unsere Hauptfigur Hannah bewegt. Das persönliche Schicksal der Zeugin Mira droht aus dem Blickfeld zu geraten, weil sich das Tribunal einem willkürlich auferlegten Zeitrahmen unterordnen muss. Ein Kompromiss, der die Beschleunigung des Verfahrens ermöglicht, scheint für alle Beteiligten eine vernünftige Lösung zu sein. Ausser für Hannah.

Uns haben die Widersprüche einer Frau interessiert, für die die Pflichterfüllung innerhalb der Institutionen immer oberstes Gebot war und die nun durch ihre Unnachgiebigkeit zur Aussenseiterin zu werden droht. Die mit dem Umstand konfrontiert wird, dass sich ein System gegen sie stellt, das sie immer überzeugt und mit Leidenschaft vertreten hat.»

Soweit Schmid. Er zeichnet für Regie, Buch und Produktion des Films, Bernd Lange ist Co-Autor. Für den Film «Sturm» erhielten sie 2009 den Friedenspreis des Deutschen Films und den Amnesty International Preis, lief im Wettbewerb der Berlinale und wurde 2010 mit dem Audience Award am Film Festival von Triest ausgezeichnet.

Dokumentarischer Spielfilm

Eigentlich sind wir uns gewohnt, solch aktuelle und politisch brisante Stoffe als Dokumentarfilme zu sehen. Doch es gibt immer wieder Autoren, die mit solchen Themen nicht nur ein kleines sehr informiertes, sondern ein breites weniger informiertes Publikum erreichen möchten und dafür den Spielfilm als ihr Medium wählen. Ein Klassiker des politischen Spielfilms ist etwa der Grieche Constantin Costa-Gavras, ein anderer der Engländer Ken Loach.

Ähnlich Hans-Christian Schmid. Er will in die Breite wirken und macht es mit einem perfekt gedrehten Polit-Thriller: spannend, engagiert, informativ. Schmid und Lange haben dafür zeitaufwändig bei Anklägern, Verteidigern und Richtern in Den Haag und bei Zeitzeugen in Bosnien-Herzogowina recherchiert. Der Film konfrontiert uns mit der Problematik der Anwältin Hannah Maynard und der Anklägerin Mira Arendt. Und damit mit Problemen, die es nicht nur in Den Haag gibt, sondern überall. Dem Spielfilm, der wie ein Dokumentarfilm daher kommt, gelingt es, sein Publikum emotional zu berühren, intellektuell zu stimulieren und schliesslich hilflos zurück zu lassen im ungelösten Kampf zwischen Recht und Gerechtigkeit.

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Hannah, gespielt von der Neuseeländerin Kerry Fox: im Dilemma, rational handeln zu müssen und doch auf Fühlen nicht verzichten zu wollen.

Ein Film, der Antworten verlangt.

Am Schluss des Filmes bleibt mir die traurige Einsicht, dass der Krieg in Ex-Jugoslawien noch nicht beendet ist, sondern unterschwellig weitergeht, und dass am Ende keine Gerechtigkeit gefunden wird. Dass die Verbrecher ohne Verurteilung davonkommen, die Gerichte zur Farcen verkommen. Dass das Internationale Tribunal für Kriegsverbrechen in Den Haag Ende 2010 fehlender Finanzen wegen eingestellt wird, bestätigt meinen Pessimismus. Und da wir alle, auch wir Schweizer, zu dieser Welt gehören, sollten auch wir die Frage nach den Gründen stellen.

Für mich sind es zwei Gründe, warum es so ist, wie es ist. Erstens der Glaube einer Mehrzahl von Menschen, vor allem Männern, die immer noch meinen, dass Probleme mit Waffen, mit Kriegen zu lösen sind. Zweitens, dass heute noch immer Menschen an Nationalismus glauben und diesem Menschenleben opfern, in einer Zeit, obwohl sonst alles globalisiert ist. Wenn der Film «Sturm» auch uns herausfordert, Antworten auf diese zwei Fragen zu suchen, hat sich die Arbeit dafür gelohnt.

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Mira weiss mehr, als sie anfänglich zugeben will, sie möchte sich zwar gerne durch ihre Aussagen entlasten, nimmt damit aber ein hohes Risiko auf sich.