Subtraction
subtraction
Gesichter, die sprechen und dennoch schweigen
Es regnet in Strömen in Teheran. Die Strassen sind verstopft, mitten im Stau steckt auch die Fahrlehrerin Farzaneh mit einer Schülerin, die meint, der Dauerregen komme vom Schmelzen an den Polen. Das findet sie unlogisch, kann ihren Gedanken aber nicht zu Ende führen, weil sie auf der Strasse eine Entdeckung gemacht hat, die sie in den Bann zieht. Sie rennt aus dem Auto und in einen Bus, in dem, unerklärlich für sie, ihr Ehemann sitzt, der nicht hier sein sollte. Ihre schlimmsten Befürchtungen scheinen sich zu bewahrheiten, als sie beobachtet, wie er auf ein Gebäude zugeht, wo man ihn zu kennen scheint und er sich kurz darauf am Fenster einer edlen Wohnung mit einer Frau unterhält. Natürlich liegen die Dinge nicht so einfach, wie sich herausstellt, als sie Jalal am Abend zur Rede stellt. Er war den ganzen Tag ausserhalb der Stadt. Farzaneh, der die Schwangerschaft zu schaffen macht, die an depressiven Verstimmungen leidet und Medikamente nimmt, beginnt an ihrer Wahrnehmung zu zweifeln. Ein erster Samen des Zwiespalts ist gesetzt. Sie will aber Gewissheit, schickt erst den Schwiegervater vor und folgt schliesslich Jalal, der sich ebenfalls auf den Weg in die besagte Wohnung macht.
Im Treppenhaus begegnet Jalal Bita, der gesuchten Frau. Sie sind gleichzeitig verwundert und fasziniert, als sie gewahr werden, dass Bita genauso aussieht wie Farzaneh und Jalal von einer Nachbarin für Bitas Mann gehalten wird. Als Erstes muss er die Waschmaschine im Haus flicken, doch als Farzaneh auftaucht und ihr Ebenbild erblickt, bricht sie ohnmächtig zusammen. Für sie ist die Entdeckung höchst beunruhigend. Wir fragen uns, wie der Letzte im Quartett, Bitas Mann Mohsen sein Spiegelbild betrachten wird. Dieser steckt aber gerade in ernsthaften Schwierigkeiten, weil er einen Geschäftspartner spitalreif geprügelt hat und sich bei ihm und seiner Familie entschuldigen sollte, da Entschuldigungen nach iranischem Recht das Strafmass mindern. Weil Mohsen aber dafür zu stolz ist, kann man das Problem nun ohne sein Wissen elegant mit seinem Doppelgänger lösen. Die Sache wird also immer kniffliger…
Jalal und Farzaneh
Aus Mani Haghighis «Director’s Statement»
Mani Haghighi wurde 1969 in Teheran geboren, studierte in Montreal Philosophie, ist Schauspieler, Drehbuchautor und Regisseur und hat schon verschiedene Preise gewonnen. «Subtraction» ist sein elfter Film.
Das Leben in einer Theokratie zerreisst einen. Man muss zu zwei verschiedenen Personen werden, um zu überleben: eine Privatperson und eine Maske für die Öffentlichkeit. Diese Spaltung dringt in jede noch so kleine Ritze deines Lebens. Jede deiner Zellen produziert ein Abbild ihrer selbst: eine Kopie, die genauso aussieht wie du. Du erschaffst diese Kopie, um dich vor der Grausamkeit um dich herum zu schützen, aber sie kann sich genauso gut gegen dich wenden und dich zerstören.
Ich habe immer einen Film über diese Doppelung machen wollen und die Katastrophen, die sie um mich herum verursacht. Einen Film über die Atmosphäre in Teheran: Nicht den explizit politischen Film, der Probleme direkt anspricht, sondern einen Film über die Stimmung in dieser Stadt, wie es sich für uns anfühlt, hier zu leben zusammen mit unseren Doppelgängern.
Stell dir vor, du bist eine Frau, verheiratet mit einem Mann, den du einst geliebt hast. Du erinnerst dich an die Tage, als du dich langsam in ihn verliebt hast. Du erinnerst dich daran, wie freundlich, zärtlich und liebevoll er war. Du vermisst diesen Mann, denn heute ist er anders. Es liegt ein Ozean zwischen dem, der er jetzt ist, und dem, der er war, als du ihn zum ersten Mal getroffen und ihm dein Herz geschenkt hast.
«Subtraction» erzählt diese Geschichte. Die Geschichte der Zerrissenheit zwischen dem, wer dein Geliebter tatsächlich ist, und dem, den du dir vorgestellt hast, unberührt von der Zeit und den schrecklichen Verstümmelungen, die sie verursachen kann. Es ist eine Geschichte darüber, wie sich das Leben im heutigen Teheran anfühlt, einer Stadt, die mich in zwei Teile spaltet und mich zwingt, mich selbst anzugreifen.
Bita und Mohsen
Erfahrungen und Erkenntnisse aus dem Film «Subtraction»
Der Film handelt von zwei Ehepaaren, die sich in ihrer ambivalenten Umwelt und Innenwelt aufhalten und bewegen. Eine augenfällige Botschaft warnt, Partner nicht zu idealisieren, auf deren beste Seiten zu konzentrieren und ihre negativen Eigenschaften zu ignorieren. Er verweist auf typische Bilder des Mannes und der Frau, wenn einem auch vieles erst am Schluss klar wird. Aufwühlend die Szenen der Schwangerschaft, provozierend die aggressiven Rituale des Patriarchats und aufschlussreich, wie die Wahrheit ans Licht kommt. Damit fasziniert der Film, lässt uns aber oft bis über den Schluss hinaus im Ungewissen.
Erzählt wird die Geschichte der Frauen Farzaneh und Bita, zweimal verkörpert von Taraneh Alidoosti, und der Männer Jalal und Mohsen, verkörpert von Navid Mohammadzadeh. Der Film erweist sich als Schaufenster auf die Hauptpersonen. Mohammadzadeh spielt Mohsen als eine bedrohliche Figur, die durch ihre Kälte Überlegenheit suggeriert; mehr noch beeindruckt er als Jalal, der mit seinen grossen Augen Naivität einfordert. Alidoosti gibt dem Film mit Bita seinen emotionalen Anker, ihre Grosszügigkeit offenbart ein gütiges Herz, während ihre zurückhaltende Reaktion die Folgen des jahrelangen Lebens mit einem Tyrannen verrät, ihr Lachen erinnert Jalal an Farzanehs, wie sie einmal war; Farzaneh hingegen ist die herzzerreissende Darstellung einer gebrochenen Seele, von ihrer gnadenlosen Welt, in der sie lebt, niedergedrückt. Beide Frauen scheinen auf bessere Versionen ihres Partners gestossen zu sein.
Was ist das Individuum? Wo sind die Grenzen zwischen mir und den andern? Solche und ähnliche Fragen stellen sich den vier Menschen im Film und auch uns. Die beiden identischen Paare beginnen, an der Einzigartigkeit ihrer Existenzen zu zweifeln, was sich zwar als genussvolles, doch manchmal gefährliches Spiel zwischen Realitäten und Wahrnehmung erweist: als Psychothriller zwischen sozialem Realismus, Humor und Fantasie pendelnd. Alle Botschaften des Films gelten weltweit, sind allgemeingültig, werden jedoch, da sie im Land der Mullahs abgehandelt werden, gerade heute (August 2023) hochbrisant, wenn das menschenunwürdige Doppelleben, vor allem der Frauen, für sie die einzige Lebensform darstellt.
In Bilder umgesetzt wird die Story vom Kameramann Morteza Najafi, vertieft mit der Musik von Ramin Kousha und zeitlich strukturiert vom Cutter Meysam Molaei, grossartig überhöht in Hell und Dunkel und einem nie endenden Regen, welcher die Unordnung des Universums in die Geschichte einbringt. Die Erzählung stellt eindringlich und nachhaltig existenzielle Fragen an uns: Was, wenn wir uns alle immer ähnlicher werden und wir alle dieselben Leben leben?
Mohsen, mit einem Werkzeug im Regen