The Tree

Julie Bertuccelli erzählt, basierend auf dem Bestseller «Our Father Who Art in the Tree» von Judy Pascoe, eine Geschichte über Liebe und Tod, Wirklichkeit und Träume, Traurigkeit und Glück.

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Dawn (eine grossartige, reife Charlotte Gainsbourg) und Peter leben mit ihren vier Kindern in einem Haus inmitten der Wildnis Australiens. Nachdem er mit seinem Truck einen Transport beendet hat und eben noch mit seiner achtjährigen Tochter Simone (eine wunderbare, authentische Morgana Davies) im Auto gescherzt hat, bekommt er einen Herzinfarkt und rollt in den grossen Feigenbaum, direkt vor dem eigenen Haus. Jäh ist er aus dem Leben geschieden, hat die Familie ihren Vater und Gatten verloren. Es beginnt eine Zeit des Trauerns, die jeder und jede anders durchlebt.

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Trauerarbeit in der Natur

Während Dawn sich in ihrem unermesslichen Schmerz wie betäubt zurückzieht und im verdunkelten Zimmer bis in den späten Tag hinein schläft, müssen die Kinder weitgehend allein zurechtkommen. Da macht Simone eine tröstliche Entdeckung. Sie ist überzeugt, dass ihr Vater aus den knackenden Ästen und rauschenden Blättern des mächtigen Feigenbaumes zu ihr spricht. Wenn sie hoch oben zwischen den Ästen kauert und dem Wispern der Blätter lauscht, fühlt sie sich ihm nah. Als sie die Mutter in ihr kostbares Geheimnis einweiht, wehrt diese zunächst ab, wird jedoch selbst auch zunehmend in den Bann des Baumes gezogen. Am nächsten Tag schaut sie sich genauer um und entdeckt in den Ästen viele kleine Schätze und Gaben, Spielzeuge und Fundstücke, die Simone dort für ihren Vater hinterlassen hat.

Erst langsam kehrt Normalität zurück, die Nachricht des Vaters auf dem Anrufbeantworter wird überspielt, seine Kleider in Kisten verstaut. Eines Tages hören die Kinder im Bad ein seltsames Quaken, und während aus dem Waschbecken braunes Wasser quillt, hüpfen Frösche aus der Toilette. Am nächsten Tag sucht Dawn im Dorf einen Klempner, um das Problem zu lösen, und übernimmt die dort frisch ausgeschriebene Stelle als Buchhalterin und Verkäuferin. Zuhause untersucht ihr neuer Arbeitgeber George die Rohrleitungen und stellt fest, dass die Wurzeln des Feigenbaumes die Wasserrohre verstopfen. Misstrauisch mustern die Kinder den fremden Mann, der ihrer Mutter zur Hand geht. Nach Arbeitsschluss sitzen George und Dawn im Pub beisammen und erzählen sich ihre Lebensgeschichten, flirten vorsichtig miteinander und kommen sich behutsam näher. Instinktiv spürt Simone diese Veränderung.

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Als in der folgenden Nacht ein mächtiger Ast durch das Fenster auf das Bett in Dawns Schlafzimmer stürzt, während sie sich gerade nebenan um die Kinder kümmert, bricht aus der Kleinen Unverständnis und Auflehnung hervor. Dann legt sich Dawn neben den Ast in ihr Bett, als wäre er ein menschliches Wesen. Als George ein paar Tage später zu Hilfe kommt, ist er entsetzt über das Ausmass der Verwüstung. Für ihn geht es um eine schlichte Naturkatastrophe, deren Spuren er tatkräftig beseitigen hilft, für die Familie ist der Baum mit vieldeutigen Gefühlen aufgeladen, die die Grenze zwischen Fantasie und Wirklichkeit verschwimmen lassen. Simone wird immer feindseliger gegenüber dem Mann, der ihrer Mutter spürbar näher kommt. Das erste Weihnachten nach dem Tod des Vaters verbringt Dawn mit ihren Kindern in Georges Caravan am Meer. Ausgelassen tollen sie im Wasser, bis dieser kommt und sich die Feindseligkeit zuspitzt. Die Mutter nimmt die aufgebrachte Simone beiseite und spricht mit ihr über Liebe, Trauer, Erinnerung und versichert ihr, dass sie den Vater nie vergessen werde. Als sich George und Dawn nachts heimlich unter einem Baum lieben, wird Simone von ihren widersprüchlichen Gefühlen übermannt und weint. Wieder zuhause, stellen sie fest, dass der ganze Baum von blühenden Schlingpflanzen überwuchert ist und seine mächtigen Wurzeln zu einer Bedrohung für das Haus geworden sind.

Als Dawn den vernünftigen Argumenten von George nachgibt und zustimmt, den Baum fällen zu lassen, setzt Simone alles daran, das zu verhindern. Sie wird zur Baumbesetzerin, die mit Lichterkette, Matratze und ihren Habseligkeiten oben in den Ästen Stellung bezieht. Von der impulsiven Heftigkeit ihrer Tochter berührt, gibt Dawn abermals nach. Es kommt zum Bruch mit George, der das nicht versteht. Nachts sucht Dawn Rat beim Baum. Als Simone am Morgen aufwacht, sieht sie, dass ihre Mutter direkt unter ihr zusammengerollt in einer Astgabel schläft. Am folgenden Tag wird eine Zyklonwarnung ausgegeben. Der Himmel verdüstert sich, der Wind wird stärker, Fenster und Türen klappern immer heftiger. Mensch und Natur rüsten sich für eine letzte, grosse Kraftprobe.

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Der Baum als Symbol für vieles

Der Baum war und ist bei den meisten Völkern und zu den meisten Zeiten ein Symbol mit vielen Bedeutungen. So bei den Schamanen, im Alten wie im Neuen Testament, in der Kabbala, in Märchen, in der Evolutionslehre, in den Überlegungen zur Biodiversität, in der Phylogenese der Biologie und in der Psychologie und Psychoanalyse.

Für die französische Regisseurin Julie Bertuccelli ist in «The Tree» der Baum vor allem das Objekt des Trauerns, des Erinnerns und Hoffens, einer Verbindung mit dem Jenseits. Vor, auf und mit ihm spielen sich wie auf einer Projektionsfläche die verschiedenen Formen des Trauerns der Mitglieder der Familie ab. Im Baum nimmt sich die Natur der trauernden Menschen an, umschlingt sie, gibt ihnen Geborgenheit. Der Mensch als Teil der Natur.

Auch wenn der Tote, die hinterbliebene Gattin und der neue Partner Menschen im besten Alter und die andern Akteure Kinder sind, dürfte der Film dennoch gerade auch älteren Menschen etwas bedeuten. Denn sie erleben Sterben und Trauern immer häufiger und näher, oft schmerzhaft im Familien- und Freundeskreis. Und deshalb bietet der Film – im Sinne eines «Probehandelns» – Möglichkeiten der Identifikation und damit Anregung, Ermutigung, Bestätigung und der Überzeugung, nicht allein zu sein in der Welt.

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