Tannöd

In ihrem dritten Film – nach «Im Nordwind» über die Arbeitslosigkeit und «Die Herbstzeitlosen» über ein munteres Altersquartett – taucht die Schweizerin Bettina Oberli ein in die dunkelsten Abgründe des Menschen. Entstanden ist er nach einem Krimi von Maria Schenkels, dieser nach einer wahren Geschichte.

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Kathrin führt durch die brutale Geschichte.

Abgelegen von menschlichen Siedlungen liegt er, der Hof, in dem die ganze Familie Danner, samt Kindern und Magd, brutal mit einer Spitzhacke erschlagen wurde. Niemand im Dorf hat von der grausamen Tat etwas mitbekommen. Wundern tut es aber keinen, war doch der Vater ein alter Tyrann und Geizhals, der es sich mit jedem in der Umgebung verscherzt hatte, sprach seine frömmelnde Frau mit niemandem und sollen die Kinder seiner Tochter Barbara auch von ihm gewesen sein.

Aus der Gegenwart die Vergangenheit befragen

Als zwei Jahre nach der furchtbaren Tat die junge Krankenschwester Kathrin wieder im Dorf auftaucht, um ihre Mutter zu beerdigen, ist der Täter noch immer nicht gefunden, gehen im Dorf noch immer Angst und Schrecken um. Die Leute sind überzeugt, dass es ein Fremder war, denn zu so einer grausamen Tat ist einer von ihnen nicht fähig, sagt man. Ganz allmählich beginnen die anfangs misstrauischen Dorfbewohner, Kathrin zu erzählen, was sie über den brutalen Mord wissen.

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Traudel Krieger (Monica Bleibtreu in ihrer letzten Rolle) und Kathrin

Lange haben sie geschwiegen, nun sind sie froh, dass sie jemandem von aussen von der Tat berichten und ihre Seele entlasten können. Dass alle die Verantwortung für das Geschehene mittragen, wissen sie schon lange. Immer deutlicher treten die bigotten Strukturen der frommen Dorfgemeinschaft zu Tage, dass auch die verzweifelten Fürbitten keine Erlösung mehr bringen. Jeder wusste, was auf dem Tannödhof vor sich geht, aber niemand hat etwas unternommen. Erschreckende Andeutungen über ihre Mutter und ihren ihr unbekannten Vater irritieren Kathrin. Sie beginnt zu ahnen, dass der Fall mehr mit ihr zu tun hat, als ihr lieb ist.

Eine wahre Geschichte wird ein Erfolgskrimi, dieser ein Filmdrama

Tannöd, das dem Film den Namen gebende hat, steht für Hinterkaifeck, einem Weiler, den es heute nicht mehr gibt. Einst stand hier in Oberbayern ein Hof, der es seines sechsfachen Mordes im Jahre 1922 zu grausiger Bekanntheit brachte. Zu diesem Thema wurde viel recherchiert und geschrieben, zum Beispiel vom Journalisten Peter Leuschner und von der Schriftstellerin Andrea Maria Schenkel, die für ihren Roman darüber 2007 mit dem Deutschen Krimipreis ausgezeichnet wurde. Darin löst sie in dichterischer Freiheit den Fall auf.

Perfekt bis in jedes Detail

Mit Kathrin, die erst im Drehbuch (von Petra Lüschow) auftaucht, wird eine zweite Zeitebene in die Geschichte eingeführt, von der aus die Vergangenheit betrachtet wird. Als Fremde kehrt sie, ein uneheliches Kind Danners heim, mit kleinem Gepäck, will sie doch bald wieder abreisen. Bei der gleichen Familie kommt sie unter, bei der ihre Mutter bereits als Bedienstete gearbeitet hat, und läuft Traudl der Giftspritze des Dorfs in die Arme. Deren Schwester war Magd auf dem Hof der verhassten Dorfdespoten.

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Traudl und die neue Magd auf dem Weg zum Hof

Dunkelblau, fast schwarz, undurchdringlich wie der Wald, der das Gehöft umgibt, und mit fiebrigen Bewegungen hält Kameramann Stéphane Kuthy die Vergangenheit fest, etwas farbenkräftiger zeichnet er die Gegenwart, in der die Dorfgemeinschaft argwöhnt, sich belauert und zerfleischt. Alle lagen mit dem alten Danner im Streit, um Schulden ging's, um dessen aufreizende Tochter, um uneheliche Kinder, Inzest und seine bigotte, verschlossene Ehefrau. Die depressive Stimmung drückt sich auch in der unheilschwangeren Musik von Johan Söderqvists aus. Der Fall wird zwar gelöst, doch der Zuschauer ist gehalten, sich über die Gründe seine eigene Meinung zu bilden, wenn am Schluss der Schnee fällt und alle Spuren bedeckt. Die Geschichte soll weiter unser Gewissen belasten.

Bettina Oberli hat sich mit diesem Stoff an eine grosse Herausforderung gewagt und diese mit Bravour bestanden, trotz grössten Schwierigkeiten beim Drehen (Wetterproblemen, Ausfall eines Darstellers). Der Stoff packte die Filmregisseurin zwar nicht von Anfang an, sie war nicht sofort bereit, zwei Jahre lang sich mit Mord und Totschlag zu beschäftigen. Ähnlich ging es mir persönlich beim ersten Sehen des Filmes. «Tannöd» ist kein Film, der gefällt, den man spontan mag, zu düster, abgründig ist sein Horror-Thrill. Doch hat Oberli mit diesem Film sicherlich ihr bisher reifstes, konsequentestes Werk geschaffen, hat gezeigt, dass sie auch einen grossen Film drehen kann.

Ein Gebet. Flehen um Erlösung

Sie entführt in eine andere, eine böse Welt, in das Inferno menschlicher Existenz. «L’enfer c’est les autres», deutet Jean-Paul Sartre in «Huit clos» die menschliche Existenz, was auch für «Tannöd» zutrifft. Die Bilder verdichten sich zu einer Parabel über die Abgründe menschlichen Seins. Dass sich Vergleiche mit Michael Haneckes «Das weisse Band» aufdrängen, führt nicht weg, sondern näher heran an das, was der Film in Wirklichkeit sagen möchte. Auch hier geht es «um Schuld und Verantwortung, um die Sehnsucht nach einem besseren Leben», wie die Autorin meint.

Kathrin greift nicht aktiv wie ein Detektiv, der den Täter sucht, in die Handlung ein, sondern ermöglicht Begegnungen, Konfrontationen, gibt Einsichten ins Menschsein. Haften bleibt eine geheimnisvolle Düsternis, eine bleierne Schwere über dem Dorf und über den Menschen: ein Sumpf aus Intrigen, Lügen, Neid und Habgier, Mord und über allem ein dunkles Familien- und Dorfgeheimnis. Oberli lässt das Gegenbild erahnen: «Im Grunde ist es ein Gebet. Ein Flehen nach Erlösung» für alle. Denn nicht bloss der Täter ist schuldig. Sondern alle, auch jene, die wegschauen, vorverurteilen, ausgrenzen.

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Barbara, die Tochter des Bauern

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